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Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender

Titel: Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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sprach sie weiter.
    „Was mich rettete, war die Schule. Du wirst es kaum glauben, aber ich bin leidenschaftlich gern zur Schule gegangen! Ich war ja so neugierig, es gab so viele Fragen, die mir niemand beantworten konnte. Es hieß immer ,ich habe keine Zeit’ oder ,störe mich nicht’ oder ,hör doch auf mit deiner ewigen Fragerei’. In der Schule durfte ich fragen und ich bekam Antwort auf viele Fragen, die ich überhaupt nicht gestellt hatte, kurz, ich durfte lernen, und ich habe es genossen! Ich lernte sehr schnell, ich war wohl die aufmerksamste Schülerin, die es in unserer Dorfschule gegeben hatte. Und ich fing an zu lesen! Ich holte mir Bücher aus der Schulbücherei, ich las heimlich im Bett, ich las in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden. Bei uns zu Hause, also bei meiner Großmutter, gab es die Bibel, ein Gebetbuch, ein paar Bücher über Landwirtschaft und einen einzigen Roman, ein zerfetztes, uraltes Buch über eine rothaarige Gräfin, die Xenia hieß. Ja, aus dem Buch hat wohl meine kleine Mutti meinen Namen geholt. Den Namen, der mich anders machte als andere Kinder. Oh, ich war immer anders. Meine unmöglichen Haare, mein Name, und dann die Tatsache, daß ich immer in meiner Klasse die Beste war. Und dann natürlich meine Existenz überhaupt, ein uneheliches Kind, ,in Sünde gezeugt’. Ich hätte ja gar nicht auf der Welt sein dürfen! Ich war eben ein Unglücksfall, mit dem die Familie sich abquälen mußte. Als meine Großmutter starb, übernahm die älteste Tochter, also meine Tante und deren Mann, den Hof. und mich. Das letztere war bestimmt das schlimmste. So ein unerwünschter Anhang, so ein rothaariges Mädchen, das immer auffiel, weil es ,anders’ war!
    Als der Schullehrer sich dafür einsetzte, daß ich auf die höhere Schule kam, konnte mein Onkel nicht dagegen protestieren. Mein Vater hatte nämlich statt einer monatlichen Unterstützung eine große Summe bezahlt. Und das Geld wurde von dem Vormundschaftsgericht in Zusammenarbeit mit meinem Vormund, dem alten Pfarrer, verwaltet. Alle waren sich einig, daß ich weiterlernen durfte, um so mehr, da mein Vater es als Bedingung gestellt hatte. Das Kind sollte eine gute Ausbildung haben. Also kam ich in die höhere Schule, ich wurde Fahrschülerin, was an sich mein Glück wurde. In der Bahn hatte ich Zeit, meine Aufgaben zu lernen. Ich hatte jeden Morgen und jeden Nachmittag vierzig Minuten Fahrzeit, ja, so weit lag unser Dorf von der nächsten Stadt entfernt. Zu Hause mußte ich immer mithelfen, im Haushalt und auf dem Hof. Am liebsten war mir die Arbeit im Kuhstall. Bei den Tieren fühlte ich mich wohl, ja beinahe glücklich.“
    Ich nickte. Ich hatte doch gesehen, wie Bicky sich spontan für Xenia begeistert hatte. Aber ich sagte kein Wort. Ich wollte Xenia nicht unterbrechen.
    „In der Bahn lernte ich Jessica kennen. Sie war schon in der Unterprima. Sie war immer so lieb und nett zu mir. Als ich einmal zum Nachbardorf geschickt wurde, um Enteneier in einem Geschäft abzuliefern, zeigte es sich, daß das Geschäft Jessicas Eltern gehörte. Da traf ich sie dann wieder, und sie lud mich zum Kaffee ein, und ich lernte ihre Eltern kennen. Du kannst dir nicht denken, was für nette Menschen sie sind. Ich war immer froh, wenn ich dorthin geschickt wurde. Da hörte ich kein Wort darüber, daß ich ,anders’ war, und kein Mensch guckte mich schief an. Aber dann machte Jessica ihr Abitur und kam nach Kiel zum Studieren, und ich war wieder allein.“
    Jetzt wagte ich eine Frage: „Aber Xenia, waren denn deine Tante und der Onkel nicht gut zu dir?“
    „Was heißt gut? Ja, ich bekam genug zu essen und ich bekam die notwendige Kleidung. So was wurde kontrolliert, da kam die Gemeindeschwester und paßte auf. Sie sah, daß ich anständig angezogen war, und sie ließ sich meine Zeugnisse zeigen. Und dann war alles in Ordnung. Man kann Pflegeeltern auferlegen, daß sie einem Kind Essen und Kleidung geben. Aber eins kann man nicht tun: Man kann es ihnen nicht auferlegen, Liebe zu schenken! Man kann nicht kommen und fragen: Ja haben Sie nun Ihrem Pflegekind auch Nestwärme gegeben? Haben Sie auf die Fragen des Kindes geantwortet, und haben Sie sich um die kleine Seele gekümmert?’ Siehst du, das hat kein Mensch getan. Ich war immer allein. Furchtbar allein. Aber die kleinen Kinder mochten mich leiden. Sie rannten hin zu mir auf der Dorfstraße, sie steckten ihre kleinen Pfötchen in meine Hand, sie plauderten, sie wollten, daß ich mit ihnen

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