Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
ich bin nicht blind. Du hast so große, unglückliche Augen, und du bist schmal im Gesicht. Du hast Kummer, und ich habe so das Gefühl, daß es etwas mit deinem reichen Bernhard ist. Ich wollte dir nur sagen, falls du eine Schulter zum Heulen brauchst oder zwei Ohren zum Hinhören, dann bin ich also immer für dich da.“
Ich drückte Xenias Hand.
„Du bist lieb, Xenia. Natürlich hast du recht. Es ist geplatzt, alles mit Bernhard und mir. Ich bin um eine bittere Erfahrung und um einen Radioapparat reicher geworden, ja, und um ein paar nette
Erinnerungen. Nun versuche ich die letzte, sehr wenig nette, von mir zu schieben.“
„Was dir noch nicht gelungen ist“, meinte Xenia.
„Stimmt. Ach, Xenia, du hast mir soviel Vertrauen geschenkt, ich wüßte außer dir niemanden, dem ich diese dumme Geschichte erzählen könnte. ich verlasse mich auf deine Schweigsamkeit. Wenn du es also hören willst?“
„Klar, Heidi!“
Dann erzählte ich alles, und beim Erzählen stieg wieder die Bitterkeit an die Oberfläche.
Xenia nickte ein paarmal. Sie horchte, und sie verstand.
„Ich fürchte, daß ich dir nicht helfen kann, Heidi. Beinahe glaube ich, daß es gut ist, daß es so kam. Ich überlege, ob es an euren so ganz unterschiedlichen Verhältnissen liegt. Du hast früh gelernt, was Geldschwierigkeiten bedeuten, du bist, wenn ich dich richtig verstanden habe, in einem bescheidenen, gutbürgerlichen Milieu groß geworden. Dein Bernhard hat es sorglos gehabt. mit seinen Reisen und Autos und seinem Einfamilienhaus und was noch alles. Ich glaube, die, die so sorglos leben, lernen nicht, ihre Mitmenschen so zu verstehen wie wir, die wir Schwierigkeiten und Kummer kennen. Vielleicht irre ich mich, ich weiß nicht.“
„Ich bin nicht sicher“, sagte ich langsam. „Du darfst jedenfalls nicht alle reichen Leute über einen Kamm scheren. Denk an Tante Christiane, was sie alles an Verständnis und Einfühlungsgabe hat!“ „Ja“, nickte Xenia. „Und trotzdem, sogar sie kam nicht auf den Gedanken, daß wir kein Geld für eine Weihnachtsreise hatten!“
„Das ist auch das einzige!“ rief ich eifrig. „Sie war keine Spur böse, daß wir sie belogen hatten! Sie hatte keine Vorwürfe, nur Selbstvorwürfe! Weißt du, manchmal finde ich, sie ist zu gut für diese Welt!“
In dem Augenblick klang eine helle Stimme von unten: „Kinder! Kommt mal runter! Macht schnell!“
Denise kam aus ihrem Zimmer gerast, und wir rannten die Treppe runter.
„Schnell, setzt euch, es kommt ein wunderbares Fernsehprogramm, es ist eine Wiederholung, ich habe es schon gesehen, es ist ein Natur- und Tierfilm aus Ostafrika!“
Sie hatte recht. Es war ein herrliches Programm. Nur, daß ich schon wieder an Bernhard denken mußte. Dies alles hatte er gesehen, den Leoparden im Baum, die spielenden Löwenkinder, die mächtigen Krokodile, die Elefanten, die langsam und majestätisch über die Steppe wanderten.
Der Film ging viel zu schnell zu Ende. Ich hätte stundenlang weitersehen können. Wir blieben etwas länger sitzen. Es war immer urgemütlich in Tante Christianes Wohnzimmer, und wir konnten so nett zusammen plaudern. Jetzt, wo Xenia auch lebhafter geworden war und so oft ihr hübsches Lächeln zeigte, war alles noch mal so gemütlich!
Tante Christiane ging in die Küche, Löffel und Glasteller klirrten verheißungsvoll, und ganz richtig, da brachte sie eine große Schale Dosenpfirsiche.
„Ach, Tante Christiane, du verwöhnst uns so furchtbar!“ sagte Xenia. „Wir werden ganz unfähig, uns selbst durchzuschlagen!“ „Vorläufig sollt ihr es ja auch nicht“, lächelte Tante Christiane. „Nein Bicky, du magst keine Pfirsiche, warte mal, ich habe was anderes für dich!“
„Wie sollen wir jemals alles wiedergutmachen, was du für uns tust?“ sagte Xenia. „Ich möchte so gern etwas für dich tun. etwas Richtiges, ein Opfer bringen, eine gute Tat.“
„Kind, hör auf! Es ist doch so schön, euch hierzuhaben! Ach ja, was ich euch noch sagen wollte. Ist euch klar, daß in einer Woche der Winterschlußverkauf anfängt? Falls ihr Kleidung braucht, solltet ihr euch die Schaufenster in den großen Kaufhäusern am Tag vor dem Ausverkauf ansehen, euch die ganz billigen Blickfänger merken, die Nummern aufschreiben. ja, sie sind alle numeriert.“ „O ja!“ rief Denise. „Und dann am folgenden Morgen uns um sechs Uhr anstellen und die ersten in der Schlange sein. Das habe ich voriges Jahr gemacht, und ich habe für zehn Mark ein
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