Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
schickes Kleid gekriegt!“
„Wißt ihr was? Ich stopfe euch an dem Sonnabendnachmittag in den Wagen, dann fahren wir alle vier in die Stadt und schreiben lauter Nummern auf.“ Es war natürlich Tante Christiane, die diese Idee hatte.
Als wir nach oben gegangen waren, fragte Xenia: „Sag mal, Heidi, was machst du in den Semesterferien? Fährst du nach Hause oder versuchst du, einen Job zu kriegen?“
„Job, unbedingt!“ sagte ich. „Du, es wäre riesig nett, wenn wir irgendwo zusammen arbeiten könnten!“
„Ich dachte gerade dasselbe. Wollen wir uns umgucken, ob etwas.“
In diesem Augenblick fiel mir Sonjas Brief ein. Jetzt konnte ich ihn beantworten - jetzt bestand keine Möglichkeit für einen Urlaub mit Bernhard!
„Warte ein paar Tage mit dem Umgucken, Xenia“, sagte ich. „Vielleicht kann ich etwas organisieren! Nein, ich sage dir noch nicht, was es ist. Übrigens weiß ich es selbst auch nicht, aber in etwa vier Tagen werde ich es wissen!“
Es war sehr spät geworden, aber trotzdem setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb Sonja. Ich erzählte von Xenia, daß sie ein prima Mädchen sei, Geld brauchte und furchtbar gern einen Job zusammen mit mir haben möchte. Als ich feierlich unterschrieben hatte: „Deine würdige alte Tante Heidi“, fiel mir etwas ein, und ich fügte ein PS dazu. „Schreib bitte Deine Antwort auf deutsch, damit ich sie - falls sie positiv ausfällt - Xenia zeigen kann!“
Am folgenden Morgen stieg ich am Hauptpostamt aus dem Bus und schickte den Brief als Luftpost!
Als wir zum Mittag nach Hause kamen, fanden wir eine vollkommen verstörte Tante Christiane vor.
„O Kinder, was sollen wir bloß machen. heute vormittag ist ein Jäger hier in der Nähe gewesen, er hat Wildenten gejagt, und jetzt liegt eine angeschossene Ente hier unten, dicht am Ufer. Man müßte sie töten. Aber ich bin feige, ich bringe es nicht fertig. Ich wollte den Briefträger fragen, und ausgerechnet heute ist er nicht hiergewesen. Das Tier tut mir so leid.“
Xenia legte ihre Tasche auf den Tisch und ging raus, ohne ein Wort zu sagen. Sie ging durch den Garten und verschwand hinter dem Schuppen. Was hatte sie wohl vor? Sie konnte doch nicht. sie würde es doch nicht fertigbringen.
Doch. Sie brachte es fertig.
Gerade als der Mittagsgong durchs Haus klang und Denise und ich uns die Hände gewaschen und die Haare gekämmt hatten, kam Xenia zurück. In der Hand hielt sie eine geschlachtete, gerupfte und ausgenommene Ente.
„Bitte, Tante Christiane. Hier hast du das Sonntagsessen.“
„Xenia! Hast du es geschafft, die Ente zu töten?“ Xenia war kreideblaß.
„Ich habe doch gesagt, daß ich gern etwas für dich tun wollte, Tante Christiane. Ich habe oft genug gesehen, wie Enten geschlachtet werden, mein Onkel züchtete ja Enten.“
„Xenia, wie soll ich dir dafür danken? Es muß scheußlich
gewesen sein - bei deiner Tierliebe!“
„Gerade wegen der Tierliebe habe ich es ja getan. Ich wollte doch nicht, daß das arme Tier leiden sollte. Ich habe es sehr schnell getan. Es war sofort tot. Entschuldige, ich komme gleich, ich muß mir nur die Hände waschen!“
Sie war ruhig, sprach leise. Aber ich kannte jetzt Xenia so gut, daß ich wußte, was es sie gekostet hatte. Es war eine Leistung, die ich nie im Leben geschafft hätte!
Als sie runterkam, strich Tante Christiane ihr über die Wange. „Das werde ich dir nie vergessen, Xenia. Und die Ente verschenken wir. Wir würden doch keinen Bissen runterkriegen.“ „Ich jedenfalls nicht“, sagte Xenia mit einem kleinen Lächeln. „Dann kommt zu Tisch, Kinder. Es gibt heute Milchreis und überhaupt nichts, was geschlachtet worden ist!“
„Brief für dich, Heidi! Luftpost aus England!“ Ich riß das Kuvert
auf.
„Mein liebes Täntchen,
gesegnet seist du, und gesegnet sei Deine Freundin Xenia. Wollt Ihr beide herkommen, gleich, in dem Augenblick, wo Euer Semester zu Ende ist? Hier geht alles drunter und drüber, wir stecken bis über die Ohren in Arbeit, und wir brauchen dringend Hilfe für kürzere oder längere Zeit. Heiko ist dabei, eine neue Expedition zu planen.
Er müßte dringend nach Alaska fliegen, aber er kann vorläufig nicht loskommen. Ich möchte ihm so wahnsinnig gern helfen, aber da ist eben unsere Nachkommenschaft! Die kleinen Biester sind dabei, Zähne zu kriegen und brüllen um die Wette. Kaum habe ich die eine trockengelegt, dann hat die andere schon die Windeln voll. Bis jetzt habe ich es so gemacht, daß
Weitere Kostenlose Bücher