S - Spur Der Angst
jedem Schüler unterschiedlich, doch ungefähr nach einer Woche wird sie sich bei dir melden, und dann wirst du ja hören, dass deine Sorgen unbegründet sind. He, magst du eine Tasse Kaffee oder Tee? Ich glaube, ich habe sogar noch eine Dose Dr.-Pepper-Cola light im Kühlschrank!«
»Nein, danke, ich brauche nichts«, sagte Jules, doch sie folgte ihrer Cousine in die kleine Küche, wo eine Glaskanne auf der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine stand. Es war ein grauer Tag. Trübes Licht fiel durch die kahlen Zweige eines Fliederbaums, die gerade erste Knospen trieben. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, die Märzkälte kroch durch das Glas, das irgendwann in den späten 1940ern eingesetzt worden war.
»Warum flippst du so aus wegen Shaylee?« Analise schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, dann hielt sie einladend die Kanne hoch. »Bist du sicher, dass du nichts möchtest?«
»Nein, wirklich nicht.« Jules schüttelte den Kopf. »Es kommt mir einfach falsch vor.«
»Wieso?«, fragte Analise, hob jedoch sofort die Hand, um jeden Erklärungsversuch zu ersticken. »Hör mal, Jules«, sagte sie stattdessen, »entgegen sämtlichen Versprechungen ist Blue Rock alles andere als perfekt, aber ich war ein Wrack, als mein Dad mich dorthin verfrachtet hat. Ich war ganz versessen auf Gras und Jungs und sammelte erste Erfahrungen mit Meth und Ecstasy. Meine Noten waren im Keller. Und dann stand ich plötzlich da, in Blue Rock, allein, ohne meine Freunde. Am Anfang war es die Hölle, da will ich dir nichts vormachen. Es gibt eine Hackordnung dort, genau wie an jeder anderen Schule, und ich musste mich ohne jede Hilfe durchschlagen, aber ich … ich habe es geschafft.« Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Chloe den Hund hinter der Couch in die Enge getrieben hatte.
»Hundi!«, krähte sie glücklich. Ihre Wangen waren gerötet, und wenn sie lachte, zeigte sie ein paar winzige weiße Zähnchen. »Bent-ley!«
»Komm mal her und gönn Bentley eine Pause.« Analise stellte ihre Tasse ab, hob ihre Tochter hoch und stemmte sie in die Luft, bis Chloe laut gluckste. Der Hund schoss hinter der Couch hervor und verschwand in seinem Körbchen, von wo aus er die Kleine besorgt im Blick behielt.
»Eigentlich sind sie beste Freunde. Bentley vergöttert Chloe, aber er ist schon elf und nicht mehr so agil wie früher.« Analise setzte sich in den Schaukelstuhl, ihre Tochter auf dem Schoß. Ihr Kaffee blieb unberührt auf dem Couchtisch stehen. Sie nahm sich eine Decke und schlug ein Buch mit Bibelgeschichten auf. Während sie die Seiten umblätterte, unterhielt sie sich weiter mit Jules. Überraschenderweise machte Chloe keinerlei Anstalten, sich ihrem Griff zu entwinden.
»Du hast dort zu Gott gefunden, stimmt’s? In Blue Rock?«
»Es war der Wendepunkt, ja.«
»Ist das freiwillig? Der religiöse Teil, meine ich.«
»Nein, Religion ist Pflicht. Und damit meine ich nicht nur Gott als höchste Macht, sondern den wahren christlichen Glauben.«
»Nun, ›wahr‹, wenn man denn Christ ist.«
»Du kannst ruhig Anstoß daran nehmen, Jules, doch für viele Jugendliche, mich eingeschlossen, ist es sehr wichtig, zu Gott und seinem Wort zu finden. Das hilft uns, von unseren Süchten loszukommen, hilft uns, unser Leben in die Hand zu nehmen.«
Da war etwas dran, musste Jules zugeben. Analise wirkte glücklich, schien mit sich ins Reine gekommen zu sein.
»Im Grunde ersetzt man so doch nur eine Sucht durch eine andere. Religion statt Drogen.«
»Das ist die Sicht der Zyniker.« Zum ersten Mal wirkte Analise ein wenig nervös. Aufgewühlt. »Ich weiß nicht, warum du so strikt gegen diese Schule bist, Jules. Sie hat mir geholfen, und sie könnte die Antwort auf Shays Probleme sein. Gott wird ihr helfen, so wie er mir geholfen hat. Vielleicht wäre ich längst tot, hätten meine Eltern mich nicht nach Blue Rock geschickt. Außerdem wäre ich niemals Eli begegnet.«
»Baby Jesus!«, krähte Chloe und tippte mit ihrem Fingerchen auf die Seite.
»Da hast du recht, das ist Jesus«, bestätigte Analise.
»Weißt du etwas über Lauren Conway?«
»Wer ist das?«
»Das Mädchen, das vor ein paar Monaten von dort verschwunden ist. Ich habe im Internet recherchiert und sämtliche Zeitungen durchforstet, soweit ich weiß, ist sie nie gefunden worden.«
Wieder kräuselte sich Analises glatte Stirn. »Davon weiß ich nichts. Zu meiner Zeit hat einmal ein Junge versucht abzuhauen, aber einer der CBs hat ihn zur Umkehr
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