S - Spur Der Angst
anders?
War sie gefährlicher, als er zunächst vermutet hatte? All seine Fantasien von ihr und dieser Shaylee Stillman, den beiden Frauen, die einander so ähnlich sahen, würde er so lange verdrängen müssen, bis er Gewissheit hatte.
Das Handy fest in der Hand, marschierte er quer über den tief verschneiten Rasen. Durch den Blizzard war die Sicht gleich null, doch er hatte keine Probleme, sich zurechtzufinden, nicht hier, an dem einzigen Ort auf der Welt, den er als Zuhause betrachtete.
Vor dem Durchgang stapfte er sich den Schnee von den Stiefeln, obwohl auch hier der Betonboden mit Schneewehen bedeckt war. Das langgestreckte Dach bog sich unter der schweren Last.
Drinnen im Verwaltungsgebäude eilte er den Gang entlang und schlüpfte in sein privates Büro, ein Ort, an dem er nicht gestört werden würde, da er ihn nur selten benutzte.
Heute Abend, da war er sich sicher, würde ihn niemand hier vermuten. Nichtsdestotrotz schloss er die Tür hinter sich ab, erst dann zog er seine Jacke aus und hängte sie an einen Garderobenhaken. Anschließend schloss er die Vorhänge und setzte sich an seinen Schreibtisch, wo er sich das Handy von Julia Farentino vornahm. Genau wie seine rechte Hand behauptet hatte, war es bereits entsperrt. Er hatte freien Zugang zu sämtlichen Mitteilungen und Anruflisten, konnte genau sehen, welche Anrufe ein- oder ausgegangen waren. Aus der Anrufliste ging einwandfrei hervor, dass Julia Farentino aller Wahrscheinlichkeit nach eine Schwindlerin war, im schlimmsten Falle eine Undercover-Polizistin, wenngleich er das bezweifelte. Er konnte sich vieles vorstellen, aber die attraktive junge Lehrerin als Detective?
Unwahrscheinlich.
Er entnahm dem kleinen Gerät sämtliche Informationen, die er bekommen konnte, starrte auf das leuchtende Display, auf dem Namen und Nummern erschienen, und schrieb alles auf, wobei er frustriert mit den Zähnen knirschte. Am liebsten hätte er das verdammte Handy zerquetscht – oder aber ihren langen, geschwungenen Hals. Er stellte sich vor, wie er sie zur Rede stellte oder, besser noch, ihr Vertrauen gewann. Einen Weg fand, sie von den anderen zu isolieren, sie allein abzupassen, ein wenig mit ihr zu flirten. Mit ihren Gefühlen zu spielen.
Sie zu verführen.
Er stellte sich vor, wie er genau die Seite in ihr ansprach, die fasziniert war von Gefahr, wie er sie in die Falle lockte. Ihre Wange berührte, ihren Blick suchte, ihr ein Lächeln schenkte. Sie würde seine Botschaft verstehen.
Er würde sie in Sicherheit wiegen, dafür sorgen, dass sie unachtsam wurde.
Er drehte das Handy in seiner Hand und stellte sich vor, wie ihre Augen aufgeregt funkelten, sah ihr neckisches Lächeln, wenn sie feststellte, dass er gefährlich war – wenn auch nur ein wenig, wie sie sich einreden würde.
Was definitiv ihr Verderben wäre.
Doch momentan blieb ihm keine Zeit für Fantasien, nicht heute Abend. Er zwang sich, sich wieder auf ihr Handy zu konzentrieren.
Verschiedene Namen auf der Anrufliste erweckten seine Aufmerksamkeit, Shay zum Beispiel. Nicht gerade ein geläufiger Name und noch dazu der von der neuen Schülerin, Shaylee Stillman, die Julia so ähnlich sah. Und dann noch der Name Analise. Auch eher ungewöhnlich, wenngleich nicht ganz so selten. Trotzdem … Unglücklicherweise hatte Julia ihrer Adresskartei keine Fotos hinzugefügt. Als Bildschirmschoner diente eine graue Katze, die mit der Pfote nach einem unsichtbaren Gegenstand schlug.
Er wählte jede einzelne Nummer, als Erstes die von »Shay«, doch er bekam keine Verbindung. Wieder einmal der Sturm. Die Vorwahl war die von Seattle, der Heimatstadt von Shaylee Stillman. Beim zweiten Versuch wurde er an den Anrufbeantworter weitergeleitet, eine monotone Computerstimme wies ihn an, Namen und Telefonnummer zu hinterlassen.
Er drückte die Aus-Taste und trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. Das war nicht gut, gar nicht gut.
Er wählte die Nummer von Analise. Wieder kein Nachname. Diesmal meldete sich nach dem dritten Klingeln jemand.
»He, Jules«, sagte eine Frauenstimme, die offensichtlich die Anruferkennung gesehen hatte. »Gut, dass du anrufst, ich wollte … reden … kann … hören … Jules? O Mist! Versuch … später.«
Er wusste, wem die Stimme gehörte, war sich absolut sicher. Dann kannte Julia »Jules« Farentino also vermutlich sowohl Shaylee Stillman als auch Analise Delaney. Er verspürte einen Anflug von Furcht. Bislang hatte nichts darauf hingedeutet, dass
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