S - Spur Der Angst
Manchmal tagelang. Es gibt einige Schulen, die diese Methode anwenden, Kinder in Wäldern aussetzen, damit sie wissen, wie es ist, ums Überleben zu kämpfen. Ich … ich frage mich immer wieder, was Lauren wohl zugestoßen sein mag. Was ist mit ihr passiert? Was, wenn sie in der Wildnis einen Unfall hatte und die Schule versucht, das zu vertuschen?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Jules automatisch. Das Ganze klang zu entsetzlich, um wirklich wahr zu sein. Vielleicht versucht nicht die Schule, den Vorfall zu vertuschen, sondern jemand aus der Schule. Wenn nur ein Einziger geheime Absichten hegt oder irgendjemand fürchtet, bei einem Skandal nebst anschließendem Prozess Millionen zu verlieren, wird er alles dafür tun, dass die Wahrheit unter Verschluss bleibt. Jules dachte an das riesige Anwesen am Lake Washington. Das Millionen wert war. Jemand lebte dort auf großem Fuß und würde das bestimmt nicht aufs Spiel setzen wollen.
Plötzlich wurde es ihr eiskalt.
»Wer weiß schon, wozu die fähig sind?«, sagte Cheryl. »Das Einzige, was ich weiß, ist, dass meine Tochter verschwunden ist. Das letzte Mal, als ich mit ihr gesprochen habe, war sie überzeugt davon, dass die Schule ein falsches Bild von sich vermittelt, und genau das wollte sie beweisen. Sie ist kein Teenager mehr, müssen Sie wissen. Sie wurde als Collaboratorin angeworben, ja, aber nicht als normale Schülerin. Sie sollte die Lehrkräfte bei irgendeinem Beratungsprogramm unterstützen. Im Gegenzug dafür durfte sie dort umsonst ihre Collegeausbildung absolvieren, und sie wollte diese Chance nutzen.
Ich habe versucht, ihr das auszureden, habe versucht, sie davon zu überzeugen, an der hiesigen Universität zu bleiben, aber Lauren hat immer nach einem Abenteuer gesucht, einer Herausforderung, die sie an ihre Grenzen treiben würde. Deshalb hat sie sich anwerben lassen, und ich denke … ich meine, es wäre doch durchaus möglich, dass sie nun aus genau diesen Gründen verschwunden ist.« Verzweiflung schwang in der Stimme der Frau mit. »Reverend Lynch beharrt natürlich darauf, dass sie freiwillig gegangen ist, aber ich kenne meine Tochter: Sie würde uns niemals solche Sorgen bereiten.«
»Es tut mir wirklich leid.«
»Wir werden sie finden.« In Cheryls Stimme trat neue Entschlossenheit. »Egal was wir dafür tun müssen, wir werden sie finden. Ich verlasse mich nicht auf das Büro des Sheriffs oder darauf, dass Reverend Lynch die erforderlichen Schritte in die Wege leitet. Dass er ein Mann Gottes ist, bedeutet heutzutage doch gar nichts mehr.«
Hatte Edie nicht gesagt, die Villa am See gehöre einem Prediger? Nein, das stimmte nicht. Sie gehörte der Schule und wurde zeitweilig von einem Geistlichen bewohnt. Sie hatte Lynch sogar namentlich erwähnt.
»Ich meine es ernst«, fuhr Cheryl fort. »Wenn Ihnen das Leben Ihrer Schwester etwas bedeutet, holen Sie sie dort raus. Aber rufen Sie mich bitte nicht wieder zu Hause an. Mein Mann regt sich zu sehr auf.«
Zum ersten Mal bestätigte jemand Jules’ schlimmste Befürchtungen.
»Ich muss auflegen«, sagte Cheryl.
»Warten Sie! Wenn ich Sie erreichen muss –«
»– dann rufen Sie mich auf dem Handy an.« Cheryl ratterte die Nummer herunter und legte auf. Jules warf ihr Handy auf den Beifahrersitz, wobei sie sich die zehnstellige Nummer immer wieder leise vorsagte, und tastete nach einem Stift. Dann notierte sie die Ziffern auf einer alten Benzinquittung, die sie in den leeren Becherhalter geknüllt hatte. Gleich nachdem sie den Wagen drei Blocks vom Restaurant entfernt am Straßenrand geparkt hatte, speicherte sie die Nummer in die Kontaktliste ihres Handys ein.
Sie dachte über das nach, was Cheryl Conway ihr anvertraut hatte, und spürte, wie ihr ein Schauder über den Rücken lief. Sie dachte auch an Shays Anruf, an ihre flehentliche Bitte, sie von dort wegzuholen, und wusste endgültig, dass sie etwas unternehmen musste; sie durfte nicht zulassen, dass ihre Schwester dasselbe Schicksal ereilte wie Lauren Conway.
Jules blickte auf ihre Uhr. Wieder spät dran! Sie fütterte die Parkuhr für die nächsten Stunden und hastete zum Restaurant, verfolgt von Cheryl Conways warnenden Worten: Wenn Ihnen das Leben Ihrer Schwester etwas bedeutet, holen Sie sie dort raus.
Jules würde sich ihre Warnung zu Herzen nehmen.
Und sie wusste auch schon, wie.
»Und Sie haben Ihre letzte Lehrertätigkeit aufgeben müssen, weil die Schule Stellen abgebaut hat?«, erkundigte sich
Weitere Kostenlose Bücher