S - Spur Der Angst
erläuterte ihr die Ziele der Institution. Abgesehen von den akademischen Fächern beinhaltete das für achtzehn Monate geplante Curriculum acht Ethikseminare, vier Drogen- und Alkoholberatungen sowie geschlechtsspezifische Seminare, die sich mit sexuellen Themen befassten. Die Schüler waren in Gruppen mit Gleichaltrigen aufgeteilt und wurden ermutigt, bei der Lösung zwischenmenschlicher Probleme zusammenzuarbeiten. Lynch konnte sich kaum bremsen, sich bis ins letzte Detail über den Auftrag der Schule auszulassen und davon zu schwärmen, wie gut die Blue Rock Academy diesen erfüllte.
Jules hätte ihm liebend gern geglaubt – was für eine unfassbar altruistische Vision! Leider wusste sie, dass diese zu schön war, um wahr zu sein. Lynch schien überzeugt von dem, was er von sich gab, und sein Engagement wirkte glaubwürdig.
Nachdem eine schmallippige Cora Sue Tee und Kaffee gebracht hatte, spielte er sogar eine DVD über das Institut für Jules ab, auf der verschiedene Leute ihre Begeisterung ausdrückten.
Der Erste war persönlich in Blue Rock gewesen. Als Jugendlicher ein gefeierter Seifenoperndarsteller, war er nach eigenen Aussagen »dem Heroin verfallen und dem Selbstmord nahe«, noch bevor er seinen zwanzigsten Geburtstag erreicht hatte. Sein »absolut selbstzerstörerisches« Verhalten hätte ihn umgebracht, hätte er an der Blue Rock Academy nicht zum Glauben und zu neuer Selbstachtung gefunden.
Als Nächstes erschien ein bekannter, gut aussehender Fernsehprediger auf dem Bildschirm, der das Institut für seine guten Werke lobte. Blue Rock habe der Jugend den »wahren und glorreichen« Weg zu Christus gezeigt und viele junge Menschen gerettet.
Und was ist mit Lauren Conway?, fragte sich Jules wieder einmal, doch es gelang ihr, den Mund zu halten. Sie konnte es sich nicht leisten, kritische Fragen zu stellen, bevor sie, wenn überhaupt, die Stelle in der Tasche hatte.
Die nächste Referenz sprach ein Autorenehepaar aus, das Selbsthilfebücher verlegte. Du bist, was du glaubst und Die Antwort lauteten die eingeblendeten Titel.
Als die Eigenwerbung zu Ende war, gab Lynch einen Schuss Sahne und sehr viel Honig in seinen Tee, rührte um und schaltete den Fernseher aus. Dann wandte er sich Jules zu und sagte: »Wir haben natürlich auch unsere Gegner, und obwohl die meisten Vorwürfe völlig unbegründet sind, gibt es ein paar dunkle Flecken – Schandflecken, wenn Sie so wollen – auf unserer ansonsten weißen Weste.«
Aha, dachte Jules, nippte an ihrem schwarzen Kaffee und wartete darauf, dass er sich genauer bezüglich dieser »Schandflecken« äußerte.
»Eine unserer Schülerinnen wird seit vergangenem Herbst vermisst.« Er seufzte laut und blickte nachdenklich in die Tiefen seiner Teetasse, als könne er den Teesatz lesen und dort eine Antwort entdecken. »Wir wissen nicht, was passiert ist, da man sie bislang nicht hat finden können. Ich habe zwar so meine Befürchtungen dazu, was vorgefallen ist, aber ich darf mich nicht zu Spekulationen hinreißen lassen. Das wäre nicht fair ihrer Familie gegenüber.«
Klartext: Die Anwälte der Blue Rock Academy haben sämtliche Institutsangehörige angewiesen, die Klappe zu halten.
»Ich habe davon gehört«, räumte Jules ein, der bewusst war, dass jeder, der sich bei der Schule bewarb, vorab Recherchen angestellt haben würde.
»Dann wissen Sie vermutlich auch, dass wir nach einer neuen Lehrkraft suchen, weil eine unserer Lehrerinnen von einem der Schüler beschuldigt wurde, sich … nun, sagen wir, gewisse Freiheiten herausgenommen zu haben. Auch dazu möchte ich mich nicht äußern und nur feststellen, dass beide ›Situationen‹ vollkommen unerwartet eintraten – Menschen sind eben nur Menschen. Aber« – er reckte seinen Zeigefinger in die Höhe – »ich muss Sie daran erinnern, dass die Schüler, mit denen wir arbeiten, nicht der breiten Masse entsprechen. Sie haben Schwierigkeiten. Teilweise große Probleme. Doch der Ruf der Blue Rock Academy spricht für sich.« Er hielte inne und legte den Kopf schräg, als würde er erst jetzt die Musik bemerken. »Ist das Bach?« Er schloss die Augen und bewegte die Hand im Rhythmus der sanften Töne, als schwinge er einen unsichtbaren Dirigentenstab.
Als das Interludium endete, öffnete er die Augen und sagte: »Entschuldigen Sie. Manchmal reißt mich die Musik einfach mit.« Dann setzte er sich auf und fragte: »Wie bald können Sie anfangen?«
Das geht aber zu schnell.
Jules’ Herz fing
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