Saat der Lüge
Laptop beleuchtetes Gesicht im Fenster sah seltsam verzerrt aus vor dem Hintergrund der Nacht, verschoben durch die Doppelverglasung, zwei überlappende Ovale. Ich erkannte mich nicht wieder. Die beiden Augenpaare ließen sich mit ein wenig Mühe scharf stellen und zu einem einzigen verbinden, aber es sah immer noch aus, als betrachtete ich mein Gesicht durchs Wasser. Plötzlich tauchte der dunkle Gedanke wieder auf – hinter dem verzerrten Gesicht, vor dem gewöhnlichen Leben meiner Nachbarn. Und dieses Mal ließ er sich nicht so einfach zügeln.
Was für ein Mensch ist zu so einem Gedanken fähig? Starr vor Schreck bemühte ich mich, das Gesicht im Fenster wieder zu meinem eigenen zu machen. Für einen Zeitraum, der mir wie eine Ewigkeit vorkam, zeichnete ich mit den Fingern seine Konturen nach, in Zeitlupe, fuhr mit den Fingerspitzen an den Augenbrauen entlang, den Lippen, versuchte, sie zu glätten und wieder zur Vernunft zu bringen. Ich sah zu, wie die Lichter der Stadt eins nach dem anderen erloschen und das Gesicht im Fenster sich immer mehr verdüsterte, bis die überlappenden Gesichtszüge schließlich mit der Nacht verschwammen.
»Traumtag« in der Redaktion
A m nächsten Tag hatte ich einen dieser bizarren, abgefahrenen Arbeitstage, an denen so viele tolle Storys in die Redaktion flattern, dass der Chefredakteur bei der Planung des Seitenlayouts fast einen Orgasmus bekommt. Solche Tage gibt es gelegentlich. Zufälliges, Fatales und Makabres fügt sich zu den unwirklichsten Geschichten des menschlichen Lebens zusammen. Und des Sterbens.
Wenn man diese Geschichten erfinden würde, würde sie einem keiner glauben. Oft fehlen selbst uns Journalisten die Worte, um sie zu beschreiben, deshalb betrachten wir das Schreiben in solchen Fällen als Prozess, an dessen Ende ein bestimmtes Produkt herauskommen muss. So fällt es am leichtesten.
Das ist wie Malen nach Zahlen: Das gedruckte Wort wird nach vorgegebenem Muster produziert, Schattierungen und Fakten, Farbe und Kommentare werden zu ungefähr gleichen Teilen zusammengemischt. Man betrachtet die Tatsachen, sucht sich einen Aufhänger und arbeitet Blickwinkel und Schwerpunkt aus. Das ist vielleicht keine Kunst, aber durchaus Kunstfertigkeit, man braucht Geschick und Präzision, damit die Wörter passen. Sorgfalt ist dabei von größter Bedeutung, auch wenn eine kleine Ausschmückung hier und da der grundsätzlichen Aufrichtigkeit, mit der man an die Sache herangeht, erst die nötige Struktur verleiht. Was am Ende herauskommt, ist ein mehr oder weniger originalgetreues Abbild eines Vorfalls, Unfalls oder Verbrechens, eines gelebten oder verlorenen Lebens.
Dieses Abbild ist natürlich nicht immer schmeichelhaft oder gar vollständig. Keine Chance, vorher die Lage abzuschätzen, sich die Krawatte zurechtzurücken und zu lächeln. Abgebildet wird ein Stillleben, nicht das echte Leben. Was auch immer den Lesern suggeriert wird – das, was sie sehen, ist weder die Wahrheit noch die Echtzeit noch die Realität. Es ist ein sorgfältig konstruierter Eindruck, aus einem bestimmten Blickwinkel, in einem bestimmten Licht. Ein Ausschnitt, ein kurzes Zitat.
Das muss so sein. Die Medien verkünden keine Neuigkeiten, sie generieren sie, indem sie gewisse Vorkommnisse heraussieben, sie zurechtstutzen, Prioritäten setzen, sie zu einem veränderlichen Produkt formen, das ihnen ihre Leser, Zuschauer oder Zuhörer immer wieder abkaufen.
Hier ein Abriss meines Arbeitspensums an diesem Tag:
In einer städtischen Wohnsiedlung starb ein Mann an einem Herzinfarkt. Nicht weiter erwähnenswert, bis auf die Tatsache, dass der Arzt beim besten Willen nicht wusste, wie er den Mann aus dem Haus und in den Leichenwagen transportieren sollte. Er wog mehr als dreihundert Kilo. Die Feuerwehr musste die Fensterfront des Hauses ausbauen und die besudelte Leiche (der Mann hatte die Kontrolle über sämtliche Körperfunktionen verloren) mit einer speziellen Seilwinde heraushieven. Zehn Männer mühten sich zwei Stunden lang damit ab, ihn in den Wagen zu laden. Er war vierunddreißig und hatte Zwillingstöchter, die an diesem Tag acht Jahre alt wurden.
In dem reizenden Vorort Splott wurde eine Rentnerin von einem Auto überfahren und starb. Ihr Sohn war drei Jahre zuvor auf derselben Straße von einem Auto erfasst und getötet worden, und von diesem Unfall hatten wir noch Fotos im Archiv.
In einer Straße in Grangetown wurde eine Frau vergewaltigt. In Cathays erhängte sich ein Mann. Im
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