Saat der Lüge
Zentrum ereigneten sich zwei weitere Autounfälle.
Rund zehn Kilometer vom Zentrum entfernt starb ein Mann in seiner Badewanne, nachdem ein elektrisches Heizgerät von der Badezimmerwand gekracht, am Badezimmerschränkchen abgeprallt und ins Wasser gefallen war.
In Llandaff hängte sich ein Mann an seinem Treppengeländer auf. Er wohnte in einem dreistöckigen viktorianischen Haus, und es war ein langer Sturz durchs Treppenhaus. Sein Kopf wurde sauber vom Körper getrennt und rollte unter die Treppe, wo er zwanzig Minuten lang lag, bis die Polizei ihn zwischen den dort abgestellten Straßenschuhen fand.
Bizarres, Herzergreifendes, Prosaisches, Entsetzliches, abgehandelt an einem einzigen Arbeitstag. Routine.
Das sagte ich der Lebensgefährtin des fetten Mannes natürlich nicht, als ich mit meinem Notizblock auf dem Gehweg stand und sie mich eindringlich bat, ihm seine Würde zu lassen. Ich sagte ihr nicht, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Ihr sanfter Riese würde für immer überdimensionaler Gegenstand des Mitleids und der Faszination sein. Mehr nicht.
In neuneinhalb Stunden besuchte ich drei polizeilich abgesperrte Schauplätze und zwei Privatwohnungen, sprach mit zwei trauernden Angehörigen, zwei Polizisten, einem Stadtrat, vier Nachbarn und einem Müllmann. Ich schrieb die Aufmacher für drei Seiten und schaffte alle Abgabetermine in letzter Minute. Es war ein langer Tag.
Und natürlich tickte hinter all dem in jeder Minute des Tages eine größere Story in meinem Kopf, eine bessere Story, mit Figuren, die mir näherstanden. Eine Story, zu der auch ich inzwischen gehörte, in der ich eine Hauptrolle spielte, die ich immer weniger zu kontrollieren vermochte.
Ich hätte also ausnahmsweise gut auf einen Anruf von Mike verzichten können, als ich um halb acht endlich die Redaktion verließ. Ich fühlte mich leer wie ein ausgeblasenes Ei, und durch meinen Kopf ratterte eine Million Wörter, schnell wie ein Repetiergeschütz. Es kostete mich schon Mühe, auf dem Weg zum Auto einen Fuß vor den anderen zu setzen.
»Sie scheint das alles für ein Spiel zu halten«, sagte er eine halbe Stunde später fassungslos und brach auf meinem Sessel fast in Tränen aus. Er war vorher noch nie allein in meinem Wohnzimmer gewesen, und dieses Bild, dieser Gedanke war beinahe zu viel für mich. Mike in seinem grauen Büroanzug und schwarzen Lederschuhen. Mike, dessen Hände ineinander verschränkt auf dem Tisch lagen, direkt vor meiner Nase. Mike, der mit mir sprach.
Wenn man die Weltzeit in ihrer Gesamtheit betrachtete, war seit diesem Morgen nur ein hauchdünner Zeitabschnitt vergangen, aber dieser Tag, dieser kopflose Mann … ein kopfloser Mann, verdammt noch mal! Es reichte. In meinem Inneren hatte sich ein Riss gebildet, durch den pfeifend die Leere hereinwehte.
Ich beobachtete, wie die kleine Ader über Mikes linker Schläfe mit erstaunlicher Geschwindigkeit pulsierte. Er hyperventilierte fast. In der einen Woche seit unserer verhängnisvollen Pubbegegnung mit dem schönen James schien Cora endgültig implodiert zu sein.
Mike berichtete, dass sie sich bereits zweimal geweigert hatte, zur Schule zu gehen, und am Dienstag im Tesco Metro fast verhaftet worden wäre, weil sie eine Kassiererin, die sich geweigert hatte, ihr weiteren Wodka zu verkaufen, wüst beschimpft und mit Schokoriegeln aus dem Regal neben der Kasse beworfen hatte. Von all dem hatte ich nichts mitbekommen. Cora hatte mir zwar in den letzten Tagen eine Reihe von Nachrichten hinterlassen – manche wütend, manche weinerlich –, aber ich war zu beschäftigt und zu beleidigt gewesen, um sie anzurufen.
»Sie hat gedroht, dass sie zur Polizei geht und erzählt, was an dem Abend passiert ist. Sie sagt, sie kann nicht mit der Schuld leben, es gewusst zu haben. Was gewusst zu haben, Herrgott noch mal? Lizzy, ich glaube, sie will mich bestrafen für diese Nacht. Für Jenny. Für das, was ich ihrer Meinung nach getan habe. In ihren Augen bin ich schuld daran, dass sie leidet, und deshalb soll ich jetzt genauso leiden.«
Er stieß einen tiefen, gequälten Seufzer aus und ließ den Kopf in die Hände sinken. »Ich erkenne sie überhaupt nicht wieder. Sie ist so anders. Sie ist immer nur wütend und glaubt mir überhaupt nichts mehr. Wenn ich nur fünf Minuten zu spät von der Arbeit komme, macht sie mir schon alle möglichen Vorwürfe. Ich weiß, dass sie meine Sachen durchsucht. Außerdem denkt sie, dass wir beide uns hinter ihrem Rücken treffen und
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