Saat des Feuers
in Sir Kenneths Diensten traf seine Herablassung sie nicht mehr. Sie hatte eine Mauer um ihr Herz errichtet, Stein um Stein, mit Mörtel so dick, dass sie undurchdringlich war.
Zuerst hatte sie geglaubt, Sir Kenneth Campbell-Brown wäre ein gütiger und großzügiger Mann. Obgleich viele Intellektuelle Mitgefühl für die Bewegung der polnischen Regimekritiker kundtaten, waren nur wenige bereit, eine Asylantin, die nur ein paar Worte Englisch sprach, bei sich aufzunehmen. Sir Kenneth hatte keine solchen Bedenken. Er deutete; sie putzte. Im ersten Jahr fand keine wie auch immer geartete verbale Kommunikation zwischen ihnen statt. Und dann wachte sie eines Tages auf und fand handgeschriebene Zettel an beinahe jedes Möbelstück geklebt. Ihre Schonzeit war unvermittelt abgelaufen und der Herr von Rose Chapel erwartete, dass sie die englische Sprache erlernte. Zuerst war es nichts weiter als ein albernes Spiel verstümmelter Ausdrücke und abgehackter Sätze, dann wurde aus dem Spiel etwas Tieferes, Komplexeres. Marta war fest entschlossen, dem Mann, der sie aus Angst und Unsicherheit gerettet hatte, ihren Wert zu beweisen.
Sie war eine der wenigen Glücklichen, denen die Flucht gelungen war, indem sie einem Schleuser eine maßlos hohe Gebühr bezahlte, damit er sie im Bauch eines Fischkutters aus Danzig herausschmuggelte. Ihr Ehemann Witold hatte nicht so viel Glück gehabt. Er wurde bei einer Razzia der Kommunisten gefangen genommen und wegen Verbrechen gegen den Staat ins Gefängnis gesteckt. Als gelernter Maurer bestand sein einziges Verbrechen darin, von
einem freien Polen zu träumen. Von den zehn Jahren Zwangsarbeit, zu denen er verurteilt worden war, überlebte er drei. Erst als er bereits seit sechzehn Monaten tot und begraben war, erfuhr Marta von seinem Tod. Sie erzählte niemandem davon, nicht einmal Sir Kenneth. Dabei hielt sie sich an eine unausgesprochene Regel in Rose Chapel: Sprich niemals über Angelegenheiten des Herzens.
Sie vermutete, diese Regel war entstanden, weil Sir Kenneth kein Herz hatte. Oder wenn er eines besaß, dann war es kaum erkennbar. In siebenundzwanzig Jahren hatte Sir Kenneth Campbell-Brown nur bei zwei Gelegenheiten irgendeine Art warmherzigen Gefühls gezeigt. Die erste Gelegenheit war, als er, nachdem er in einer örtlichen Tageszeitung von ihrer Notlage gelesen hatte, die katholische Wohltätigkeitsorganisation, die sie gleich nach ihrer Ankunft in England unterstützt hatte, anrief und sie informierte, dass er ihr eine bezahlte Anstellung geben würde. Beinahe zehn Jahre sollten bis zu der zweiten Gelegenheit vergehen.
Obwohl es dazwischen zahllose Vorfälle gab; Vorfälle, die von einem dekadenten und lasterhaften Dasein sprachen. Unzählige Nächte kam Sir Kenneth nicht nach Rose Chapel. Unzählige Nächte verbrachte er mit Trinkgelagen. In einer dieser Nächte traf sie zufällig in der Küche auf zwei nackte, kichernde Mädchen, die sich gegenseitig Butter auf die Brüste schmierten. An einem anderen Abend ging sie in Sir Kenneths Schlafzimmer, um das Bett aufzuschlagen, nur um zu entdecken, wie Sir Kenneth mit einem muskulösen Schwarzen einen unaussprechlichen Akt vollzog. In manchen Nächten hielt sie ihn für den leibhaftigen Teufel. In anderen Nächten für einen schönen Bacchus.
An jenem längst vergangenen Dezemberabend hatte er jedenfalls sehr schön ausgesehen, in seinem knapp geschnittenen schwarzen Smoking und den grauen Locken, die wie poliertes Zinn glänzten. Er war früh von einer Feier zurückgekommen, die, wie er behauptete, »grässlich langweilig« gewesen war. Marta hatte ihm eine Tasse Glühwein angeboten und gefragt, ob er ihr helfen wolle, den Weihnachtsbaum
zu schmücken. Er lachte über die Einladung, aber er lockerte seine Fliege und half ihr dennoch. Er hielt ihr sogar den Stuhl fest, damit sie einen blinkenden Stern auf die Spitze des Baumes setzen konnte. Doch der Stuhl wackelte, und sie fiel ihm zufällig in die Arme. Bevor sie sich versah, wälzten sie sich auf dem frisch gesaugten Teppich und zerrten sich gegenseitig die Kleider vom Leib wie zwei wilde Tiere. Seit den zehn Jahren, seit sie ihre Heimat Polen verlassen hatte, war sie mit keinem Mann mehr intim gewesen. In diesem leidenschaftlichen Augenblick hörte Sir Kenneth auf, der Herr von Rose Chapel zu sein. Er war einfach nur ein Mann. Stark. Hart. Fordernd. Sie hatte aufgeschrien, denn der Schmerz war so köstlich, dass sie glaubte, sie würde in Stücke gerissen.
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