Saat des Feuers
Morgen war das Schweigen nach Rose Chapel zurückgekehrt. Dem ersten Jahr ihrer Anstellung nicht unähnlich, tat Sir Kenneth nicht viel mehr als zu deuten und zu murmeln. Sie tat nichts, als Staub zu wischen und zu saugen. Die Leidenschaft der vergangenen Nacht wurde mit keinem Wort erwähnt. Wären da nicht der zerbrochene Glasengel unter dem Baum und Sir Kenneths in den Zweigen hängende Fliege gewesen, hätte sie beinahe glauben können, dass es nie geschehen war. Der zerbrochene Engel wanderte in den Mülleimer, die Satinschleife in ihr Kästchen mit Erinnerungsstücken.
Eine Woche später, am zweiten Weihnachtsfeiertag, an dem die Herrschaften ihre Bediensteten traditionellerweise beschenken, war eine kleine, in schlichtes, braunes Papier gewickelte Schachtel auf geheimnisvolle Weise auf ihrem Toilettentisch aufgetaucht. Darin befand sich ein mundgeblasener Kristallengel. Keine Karte. Jedes Jahr war der geheimnisvolle Engel das Erste, was sie auspackte. Und jedes Jahr, trotz seiner Proteste und Beschwerden, schmückte Marta einen Weihnachtsbaum und zwang den Herrn von Rose Chapel so dazu, sich an ihre Nacht voller Leidenschaft zu erinnern.
Sie hatte schon lange jede Hoffnung aufgegeben, dass Sir Kenneths Seele noch gerettet werden könnte. Denn um eine Seele zu haben, musste man zuallererst ein Herz haben. Herzloser Mann, der er war, hatte sie Angst, dass der Tag kommen würde, an dem er sie durch eine jüngere Frau ersetzte, eine Frau, deren Haar noch nicht grau geworden, deren Körper noch nicht erschlafft war. Marta hatte Angst davor, was aus ihr werden würde, wenn sie auf die Straße gesetzt wurde, ohne Geld und ohne Rente.
Doch nun hatte sich eine Möglichkeit ergeben, wie sie diesem Schicksal entgehen konnte. Ein amerikanischer Engel war gekommen, um sie vor dem zu retten, was sie am meisten fürchtete. Nun konnte sie Rose Chapel unter ihren eigenen Bedingungen verlassen, das graue Haupt hoch erhoben. Es bedurfte nur eines einzigen Telefonanrufs.
Marta griff in die Tasche ihrer Schürze und zog einen Fetzen Papier heraus, auf den eine Handynummer gekritzelt war. Seit zwei Tagen trug sie das Stück Papier in der Tasche mit sich herum. Zögernd starrte sie die Nummer an. Unschlüssig. Überwältigt von Erinnerungen an jenen längst vergangenen Dezemberabend. Wie eine Frau, die sich in einem Schneesturm verirrt hat, richtete Marta den Blick auf den ordentlich aufgereihten Baumschmuck, der darauf wartete, am Baum befestigt zu werden. In der Küche klingelte ein Küchenwecker.
Zeit, die Brötchen aus dem Ofen zu nehmen.
Marta wandte sich von dem Weihnachtsschmuck ab, doch dabei stieß sie mit der Hüfte an den Tisch und einer der grässlichen blau und grün karierten Weihnachtsmänner rollte über die Kante und fiel auf den Steinfußboden.
Marta starrte auf die zerbrochenen Porzellanscherben.
Nicht länger unschlüssig.
38
»Denkst du, was ich denke?«, fragte Edie mit gesenkter Stimme. »Dass der Harvard-Typ Sir Kenneth die Vierzeiler gestohlen hat?«
»Genau das«, antwortete Cædmon. Die fehlenden Gedichte schienen der Beweis zu sein, dass Stanford MacFarlane glaubte, Galen of Godmersham habe die Bundeslade entdeckt. Es legte auch den dringenden Schluss nahe, dass MacFarlane davon überzeugt war, in diesen Versen Hinweise auf den Verbleib der Bundeslade zu finden. Eine lyrische Schatzkarte, wenn man so wollte. Er und Edie mussten schnell handeln.
»Sir Kenneth, sagten Sie nicht, dass Galens Gedichte in der Universitätsbibliothek aufbewahrt werden?«
Sir Kenneth, der noch immer durch die Papierstapel auf seinem Schreibtisch blätterte, blickte auf. »Wie war das? Äh, ja. Das Original der Vierzeiler befindet sich in der Duke Humphrey’s Library.«
Die Duke Humphrey’s Library war eine von vierzehn Bibliotheken der Hauptbibliothek der Universität. Wenn sich die Dinge nicht grundlegend geändert hatten, dann wurde nur eingeschriebenen Studenten und Forschern, die eine schriftliche Genehmigung eingeholt hatten, Zugang zur Duke Humphrey’s Library gewährt. Für Besucher blieb das Gebäude verschlossen. Um die Einschränkung zu umgehen, hatte MacFarlanes Mann die Kopie von Sir Kenneth gestohlen.
»Gibt es irgendeine Möglichkeit, dass ich die Originalquartette untersuchen könnte?«
Sir Kenneth hielt mitten im Blättern inne. Einige lange Sekunden musterte der ältere Mann Cædmon von der anderen Seite des mit Papier übersäten Schreibtisches, wodurch Cædmon sich wie ein Kind fühlte, das
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