Sabihas Lied
wird.«
»Das ist kein Spaë, sagte er und streckte den Arm aus, um sie sanft zu sich hinunterzuziehen.
Sie lieà sich widerstandslos neben ihn ins Gras fallen. »Eines Tages singe ich dir meine Lieder vor.«
Er nahm sie in die Arme. »Ich werde deine Sprache lernen«, sagte er, »damit ich sie verstehe.«
Es gefiel ihr, seinen kraftvollen Körper zu spüren.
»Meine Sprache ist für dich zu schwierig. Du wirst sie nie verstehen«, sagte sie. »Fang besser gar nicht erst an.«
Schweigend hielten sie sich in den Armen, über ihren Köpfen rauschten die Weidenblätter im Wind.
»Nie wird es für mich eine andere geben als dich, Sabiha. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«
Sie äuÃerte sich nicht zu seinem tiefen Ernst, seinem Wunsch, sie zu überzeugen, seinem Bedürfnis, zwischen ihnen ein festes Band zu knüpfen. Was er sagte, machte sie glücklich. Aber es war zu viel. Es war zu früh. Das bedrückte sie. Sie wollte es hören und auch wieder nicht. Vor allem wollte sie mit ihm lachen. Mit ihm rennen und Verstecken spielen, wie Kinder rennen und Verstecken spielen und sich gegenseitig necken. »Deine Augen haben die gleiche Farbe wie die von Tolstoi«, sagte sie.
Das brachte ihn zum Lachen. Er nahm ihre Hand und küsste die Fingerspitzen. »Und woher weiÃt du, was Tolstoi für eine Augenfarbe hatte?«
»Du kannst dich nachher selbst überzeugen. Tolstoi ist der alte Windhund unseres Vermieters. Seine Augen haben in weite Ferne gesehen, wie deine. Seine Vorfahren haben in der russischen Steppe Wölfe gejagt.« Sie küsste ihn rasch auf die Wange und fügte hinzu: »Gehört das vielleicht auch zu Ihren Fertigkeiten, Monsieur Patterner â Wolfsjagd in der australischen Steppe?«
Er beugte den Kopf zu ihr, und ihre Lippen trafen sich zu einem langen, innigen Kuss. Danach blieben sie Seite an Seite im Gras liegen und hielten sich bei der Hand.
Sabiha zog ihre Hand zurück, stützte sich auf den Ellbogen und sah ihn an. »Du hast mir noch nicht gesagt, warum du nach Schottland fahren wolltest.« Ob er schlieÃlich doch fahren würde?, fragte sie sich. Oder hatte er jetzt wirklich alle seine Pläne umgeworfen?
Er machte die Augen auf. Ãber ihrem Kopf bewegten sich die hängenden Weidenzweige in der Brise, vor und zurück, wie die smaragdgrünen Gräser im Fluss. »Wir könnten für immer hierbleiben«, sagte er. »Wir könnten einfach aus unserem alten Leben verschwinden und hierbleiben. Nur wir zwei, bis ans Ende unserer Tage.«
»Houria wäre auÃer sich vor Sorge. Ich würde ihr fehlen.« Sabiha strich ihm über die Wange. Sie war rau und stoppelig. »Du hast dich heute Morgen nicht rasiert, bevor du zu mir gekommen bist«, warf sie ihm spielerisch vor.
»Ich hatte es eilig. Macht es dir was aus?«
»Mir gefällt es. Hast du denn niemanden, der sich sorgen würde, wenn du verschwindest?«
Er überlegte kurz. »Meine Mutter. Dad natürlich. Meine Schwester vielleicht auch. Und ein besonders enger Freund. Sonst niemand, glaube ich.«
»Du bist so ernst«, sagte sie. »Warum bist du überhaupt von zu Hause weggegangen, und auch noch so weit weg, wenn sie dich vermissen? Warum wolltest du nach Schottland? Du hast mir ja noch gar nichts erzählt.«
Er lachte. Wie sollte er ihr sein Bedürfnis erklären, Australien zu entkommen? Sein Gefühl, dort allenthalben zu ersticken? Sein Französisch reichte dafür nicht aus. Seine Sehnsucht nach einem Anderswo â wie sollte er ihr das begreiflich machen? Dass er sich von dieser Sehnsucht um die halbe Welt hatte treiben lassen. »Das machen alle so«, sagte er. »Australier jedenfalls.« Er hatte nicht nur nach Schottland fahren, sondern auch vor sich selbst davonlaufen wollen. Wenn er ihr das erzählte, würde sie ihn vielleicht für einen wankelmütigen Menschen halten. »Ich habe einen guten Freund, der in Glasgow geboren wurde«, führte er aus. »Harold Robinson. Früher war er Bibliothekar an meiner Schule. Ein alter Mann. Harold war schon immer ein alter Mann. Seit ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Er sammelt Bücher über Schottland und lebt inzwischen in Melbourne. Er ist schon seit langem im Ruhestand. Als ich ein Junge war, hat er mir alles über Schottland erzählt. Wir sind seit meinem dreizehnten Lebensjahr
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