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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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dem Baden ging Sabiha nach oben, setzte sich an Hourias Frisiertisch und bürstete sich die Haare. Danach zog sie eine frische Bluse an und ging in die Küche hinunter. Es dauerte nicht lange, bis sie den Lieferwagen die Gasse entlangkommen hörte. Jetzt, da sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, wurde sie ein bisschen nervös. Noch nie hatte sie Hourias Liebeskünste bei John angewandt. Dazu war sie zu schüchtern gewesen. Außerdem hatte sie es nie nötig gehabt. John und sie erfanden rasch ihre eigene Sprache der Liebe. Beim Sex hatte sie noch nie die Initiative ergriffen, obwohl Houria ihr dazu geraten hatte. Es ergab sich immer von allein. Als sie in die Gasse trat, stürmte Tolstoi aus Andrés Hintertür und gesellte sich zu ihr. Es war einer dieser Tage, an denen es einfach nicht hell werden wollte. John hatte das Vorderlicht angelassen. Als er sich aus dem Wagen herausgewunden hatte, ging sie auf ihn zu, legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf den Mund. »Ich liebe dich«, sagte sie, dann nahm sie seine Hand und führte ihn durch die Küche und über die Treppe zu ihrer Kammer. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, sagte sie: »Ich möchte mit dir schlafen.«
    Danach hielten sie sich umschlungen. Sabiha dachte, er wäre eingeschlafen, und stützte sich auf den Ellbogen, um ihn im schwachen trüben Licht zu betrachten, das hinter ihr durch das schmale Fenster drang. Er schlug die Augen auf und erwiderte ihren Blick, bevor er sie noch fester an sich drückte.
    Sie riss sich von ihm los, mit Tränen in den Augen. »Versprichst du mir eins, Liebling? Bitte versprich mir, dass du nie wieder von mir verlangen wirst, nach Australien zu gehen, bevor mein Vater unser Kind gesehen hat.«
    John runzelte die Stirn. Er konnte es nicht ertragen, sie weinen zu sehen. Genauso wenig, wie er den Gedanken ertragen konnte, dass ihr erstes Kind um jeden Preis Sabihas Vater vorgestellt werden musste. »Hör auf zu weinen, bitte. Ich verspreche es dir ja«, sagte er. Eine Diskussion hatte offenkundig keinen Sinn. Er fragte sich, wie lange er dieses Versprechen würde halten müssen. Und wenn sie überhaupt kein Kind bekämen? Was wäre dann? Er fragte sich, ob er es jemals wieder nach Australien schaffen würde.

F ast vierzig Jahre zuvor war ich mit Marie in El Djem gewesen. Ich wollte vor Ort für ein Buch recherchieren. Wir waren in Sidi Bou Said abgestiegen und fuhren von dort nach El Djem, um uns das Amphitheater anzusehen. Auf dieser Reise wurde Clare gezeugt. Möglicherweise just in der einen Nacht, die wir in El Djem verbrachten. Marie hatte mich mitten in der Nacht geweckt. Es war sehr heiß. Es gab weder Ventilator noch Klimaanlage. Ich war völlig verschwitzt. Sie war in Panik geraten. Sie packte mich und kreischte mir ins Ohr: »Da ist ein Tier auf dem Nachttisch!« Es war stockfinster, und ich stellte mir eine große, behaarte Kreatur mit blitzenden Reißzähnen vor. »Schon gut!«, sagte ich. »Lass mich los, damit ich das Licht anmachen kann.« Es war kein Nagetier, sondern eine Kakerlake. Sie war riesig. Sie streckte mir die Fühler entgegen wie ein außerirdisches Wesen, das meine Gedanken entschlüsseln wollte. Ich machte sie mit meiner Schuhsohle platt. Das hatte sie nicht kommen sehen.
    Nach diesem Drama waren wir beide zu aufgeregt, um wieder einzuschlafen, zumal die Hitze immer noch so drückend war. Stattdessen liebten wir uns im Bad. Es war himmlisch. Ich habe es bis heute nicht vergessen. Auch das prachtvolle Bad nicht. Antik, vielleicht sogar noch aus der römischen Zeit, aus einem einzigen Block massiven weißen feingeäderten Marmors gehauen. Der einzige kühle Ort weit und breit. Sabiha musste damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein und befand sich irgendwo in jener Stadt, in der Marie und ich unsere Tochter schufen. Am nächsten Morgen fuhren wir auf dem Rückweg nach Sidi Bou Said an einem Bautrupp vorbei. Ein halbes Dutzend Männer mit Spaten und Pickel über der Schulter, die sich am Straßenrand zusammendrängten, als wir sie passierten. Der weiße Staub lag fingerdick auf ihren Schnurrbärten. Ich stelle mir gern vor, dass ich an jenem Tag Sabihas Vater gesehen habe, dass unsere Blicke sich kreuzten und wir uns auf diese Weise ganz flüchtig verständigten. Natürlich fällt es mir nach so langer Zeit schwer zu unterscheiden, was Tatsache

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