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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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ist und was Einbildung. Marie hatte mir oft vorgeworfen, dass ich mir alles immer nur ausdachte und nicht in der Lage sei, ein einziges wahres Wort von mir zu geben. »Es gibt da dieses Gen«, hatte sie zu mir gesagt. »Das Wahrheitsgen. Sie werden es eines Tages entdecken. Aber bei dir werden sie garantiert nicht fündig, das weiß ich jetzt schon.«
    Eines habe ich mir jedoch ganz bestimmt nicht ausgedacht, nämlich die Tatsache, dass unser Fahrer danach anhalten musste, um eine Gruppe von Berbern durchzulassen, die auf ihren Kamelen an uns vorbeiritten. Die Straße war gerade mal breit genug für je eine Fahrspur in beide Richtungen, die Ränder bröckelten. Zu unserem Glück herrschte nicht viel Verkehr. Die Berber ritten einfach quer über die Straße, ohne sich nach links oder rechts umzusehen oder unser Auto auch nur eines Blicks zu würdigen, so dass es sich anfühlte, als wären entweder sie nicht vorhanden oder wir. Die Frauen trugen keinen Schleier, sondern reich bestickte Hauben, ihre Sicht auf die vertraute Landschaft wurde von klimpernden Münzen und Silberanhängern gerahmt. Wie hochmütig sie waren. Erhaben. Reisten auf eigenen Wegen, die sie von alters her kannten, vermutlich lagen sie ihnen im Blut. Sie waren ungeheuer beeindruckend und nicht von dieser Welt. Ihr unerwartetes Auftauchen in der menschenleeren Umgebung ließ uns und das Auto auf dem schmalen Asphaltstreifen hinfällig werden, ohne Bestand. Während sie so majestätisch an uns vorbeizogen, schämten wir uns ein wenig unserer Existenz. Sie, die Berber, begnügten sich mit dem, was die karge Landschaft hergab. Begleitet wurden sie von gefährlich wirkenden scheckigen Hunden, und der Fahrer sagte, wir sollten zum Fotografieren besser nicht aussteigen.
    El Djem kannte ich also. Nicht sehr gut, aber immerhin war ich an Sabihas Geburtsort gewesen. Mir war nicht ganz klar, warum ich es John nicht erzählt hatte. Von ihm wusste ich, dass er nie dorthin gefahren war.
    Drei Wochen hatte ich ihn schon nicht mehr gesehen. Das war ungewöhnlich. Jeden Samstag ging ich ins Schwimmbad und zog meine zwanzig Bahnen, und abends geisterte ich in der Bibliothek herum. Aber ich traf ihn nirgends an. Sabiha gab mir das Gefühl, aufdringlich zu sein, wenn ich beim Kauf von Keksen und anderem Gebäck auf John zu sprechen kam, und so traute ich mich nicht, sie rundheraus nach dem Verbleib ihres Mannes zu fragen.
    Ich hatte eine unruhige Nacht verbracht. Keine Alpträume, sondern Angstzustände. Ein Jucken auf der Brust. Unwillkürlich zuckende Beine. Alle paar Minuten drehte ich mich um. Machte das Licht an, sah auf die Uhr und stellte fest, dass es – kaum zu glauben – immer noch erst zwei Uhr früh war. Ich trank das Wasser aus, das eigentlich für die morgendliche Pilleneinnahme bereitstand. Kurz vor Tagesanbruch schlief ich ein und wachte auf, als die Sonne durch die Jalousien strömte. Ohne John hatte ich nichts zu tun und sah einem weiteren gähnend leeren Tag entgegen. Nachdem ich aufgestanden war, ging ich ins Arbeitszimmer und sah meine Notizen durch. Manches hatte ich mir einfach notieren müssen. Zwar hätte ich seine Geschichte hier und da etwas ausschmücken können, aber in diesem Fall wollte ich nichts hinzuerfinden. Tatsächlich habe ich noch nie gern auf Erfundenes zurückgegriffen, Maries Behauptung zum Trotz, ich sei zur Wahrheit nicht fähig. Meine Fantasie muss mit Fakten gefüttert werden. Ich konnte mir für Johns und Sabihas Geschichte durchaus den einen oder anderen Fortgang vorstellen, aber ich widerstand dem Impuls. Ich wollte von John die wahre Geschichte hören. Ich wollte den Grund für Sabihas geheimen Kummer erfahren. Ich wollte unbedingt die Fortsetzung hören und nahm es John übel, dass er sich nicht an unseren üblichen Treffpunkten blicken ließ.
    Ich ging im Bademantel nach unten, so mürrisch und gereizt, dass ich mich zusammenreißen musste. Clare saß wie immer um diese Uhrzeit am Küchentisch, trank Kaffee und las Zeitung. Sie trug ein schickes dunkelblaues Kostüm, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Um es vor Krümeln zu schützen, lehnte sie sich über den Tisch, während sie eines von Sabihas Gebäckstücken aß.
    Â»Warst du etwa schon draußen?«, fragte ich. Sie gab mir keine Antwort, sondern las kauend weiter. Ich schenkte mir ebenfalls eine Tasse Kaffee ein, nahm

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