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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Miller
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Irrtum. Von außen betrachtet, mochte es so wirken, aber Marie strebte keine Karriere in der Kunstwelt an. Ihre Kunst war eine Art Selbstgespräch, um geistig gesund zu bleiben. Das war uns beiden bewusst. Da ich ihre Einstellung respektierte, habe ich sie nie dazu gedrängt, ihre Werke auszustellen. Oben sind die Schubladen voll mit ihren Zeichnungen, und an den Wänden hängen bestimmt hundert Öl- und Gouachegemälde, Kohle- und Tuschezeichnungen. Jedes Bild ist gleichsam ein kurzes Gedicht in einem langen Zyklus. Wer hat wohl schon so etwas vollbracht? Möglicherweise ein chinesischer Dichter.
    Marie hatte eine ausgeprägte Persönlichkeit. Sie war sehr in sich gekehrt. Und in ihrer Jugend war sie äußerst hübsch. Als ich sie kennenlernte, hatte sie eine Menge Liebhaber, die einander in dichter Folge ablösten. Darüber haben wir oft Witze gemacht. Zuerst waren wir nur befreundet. Sie wollte damals alle Männer erobern, die ihr begegneten. Das hörte irgendwann auf, als würde sie der Sex plötzlich langweilen, oder die Männer oder sie sich selbst. Am Ende blieb sie bei mir.
    Zwischen Marie und mir war es nie zu einer leidenschaftlichen Affäre gekommen, aber wir hatten uns immer gut verstanden. Nach und nach dämmerte uns, dass wir ziemlich ideale Partner wären. Die Liebe hatte uns nicht überwältigt, sie reifte langsam heran, und als wir uns endlich verliebten, war das von Dauer. Wir liebten uns bis zum Schluss. Und das war das Beste daran. Ich war der Einzige, der bis zuletzt ihre Schönheit erkennen konnte. Maries lebendige sanfte graue Augen, ihr grimmiger Humor, ihre Aufrichtigkeit und Zuversicht. All das blieb ihr erhalten. Es gibt Tage, an denen ich sie furchtbar vermisse. Wäre sie jetzt hier, würde sie sich über meinen sogenannten Ruhestand lustig machen. Sie würde sich darüber aufregen. Ich höre förmlich, wie sie oben an der Treppe steht und herunterbrüllt: »So ein Unsinn! Schriftsteller kennen keinen Ruhestand!« Vielleicht stimmt das sogar. Wer weiß? Wir werden ja sehen.
    Ich schaute Clare an. Die Augen und Hände hat sie von ihrer Mutter. »Warum hast du mich das gefragt? Bist du etwa mit einem verheirateten Mann liiert?«
    Â»Gott, Dad, was bist du doch für ein Mistkerl.«
    Â»Soll das ja heißen?«
    Sie faltete die Zeitung zusammen, dann kam sie auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Du bist wirklich ein Mistkerl«, sagte sie zärtlich, bevor sie sich zum Gehen wandte. »Bis nachher«, rief sie.
    Â»Bis nachher, mein Schatz.«
    Hatte sie dieses Kostüm nun für ein Geschäftsessen oder für einen Geschäfts mann angezogen?
    Später schlenderte ich zum Paradiso. John saß allein im rückwärtigen Teil des Cafés. Er las ein Buch. Sosehr ich mich freute, ihn zu sehen, wusste ich nicht recht, wie er reagieren würde. Vielleicht wollte er mir ja wirklich aus dem Weg gehen. Als ich »Hallo« sagte, hob er den Kopf. Dann lächelte er, erwiderte den Gruß und klappte sein Buch zu.
    Â»Und wie ist es dir so ergangen, John?«
    Â»Mein Vater ist gestorben. Ich habe ein paar Wochen Urlaub genommen und bin zu Mum und Kathy nach Moruya gefahren.« Er deutete auf den freien Stuhl. »Nimm schon Platz.« Er lachte kurz auf. »Ich habe mich nicht vor dir versteckt. Aber ich habe das Rauchen aufgegeben. Jetzt müssen wir nicht ständig draußen sitzen.«
    Ich nahm den Stuhl und setzte mich hin. »Es tut mir sehr leid, dass du deinen Vater verloren hast.«
    Â»Ich komme damit klar.«
    Â»Ich weiß, dass du deinen Vater geliebt hast.« Mit welcher dumpfen Hilflosigkeit ich der Trauer eines Freundes begegnete. Eines Freundes? Ich denke schon, dass wir allmählich Freunde wurden. Zwar spielte er das Ganze herunter, aber ich spürte, dass ihn der Verlust schwer getroffen hatte. Als mein Vater starb, war ich genauso alt gewesen wie John. Nachdem ich den Anruf entgegengenommen hatte, musste ich weinen, und ich staunte über die Wucht meiner Trauer. Kaum eine Woche später hatte ich meinem Vater alles verziehen. Das war eine große Erleichterung. Ein unerwartetes Geschenk. Und binnen eines Monats hatte ich ihm in meiner Erinnerung einen neuen Platz zugewiesen, der meiner Version unserer gemeinsamen Geschichte entsprach. Der Tod machte meinen Vater zugänglicher. Ihn zu lieben fiel mir leichter als zu seinen Lebzeiten, als

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