Sabihas Lied
sagte er und bediente anschlieÃend Nejib und dessen Gefährten.
Auf manchen Tischen stand neben dem Brot auch ein Krug Wein, aber nie auf diesem Tisch. Als Nejib und der andere das erste Mal ins Café kamen, hatte John ihnen Wein angeboten. Nejib hatte zwar höflich abgelehnt, aber John wusste noch, in welchem Ton der andere auf sein Angebot reagiert hatte. Kalt, verächtlich und hochmütig, als wäre er durch diesen Verzicht allen anderen überlegen. Er hatte seinen stattlichen Schnurrbart gezwirbelt und verkündet: Ich habe noch nie einen Tropfen Alkohol zu mir genommen. John hatte ihn gleich als fanatischen Narren abgetan. Er konnte ihn nicht leiden. Der Mann sprach so gut wie nie und begleitete Nejib offenbar nur widerstrebend ins Chez Dom. Mit seinem ganzen Gebaren gab er den anderen Männern zu verstehen, dass er sich keinesfalls zur Arbeiterschaft zählte.
Einer der Gäste hielt John einen leeren Wasserkrug entgegen. Er ging mit dem Krug hinter den Tresen und füllte ihn unter dem Wasserhahn auf. Diese Männer mussten alle ohne die wohltuende Nähe ihrer Familie auskommen, sie wohnten in billigen Absteigen, lebten von Tag zu Tag, ohne zu wissen, ob der französische Staat ihnen ein dauerndes Bleiberecht einräumen würde. Sie führten eine Randexistenz, brüchig und voller Ungewissheit, wurden täglich durch eine Fülle kleiner Details daran erinnert, dass sie nicht dazugehörten, dass sie ihre Koffer vielleicht von heute auf morgen packen mussten. John konnte sich durchaus in ihre Lage versetzen. Ãber die Jahre hatte er einigen von ihnen empfohlen, nach Australien auszuwandern. Zwei hatten es tatsächlich geschafft, zusammen mit ihrer Familie. Wenn mal ein Brief aus Australien kam, brachte ihn einer der Gäste zu Sabiha, damit sie den Brief für John übersetzte.
Als die Eingangstür krachend zufiel, blickte John von der Spüle auf und sah Bruno mit gesenktem Kopf am Fenster vorbeigehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. John schaute sich nach Brunos Tisch um: Der Eintopf war unberührt. Die Männer hatten alle aufgehört zu essen, eine ungewöhnliche Stille breitete sich im Café aus. John brachte den Wasserkrug zurück. Ein Gast sagte etwas auf Arabisch, alle lachten, dann aÃen sie weiter, und im Raum herrschte wieder das gewohnte Stimmengewirr.
John ging in die Küche, nicht ohne sich zuvor noch einmal im Speiseraum umzusehen.
»Es geht Bruno sehr schlecht«, sagte er zu Sabiha. »Aber ich weià nicht, wie wir ihm helfen können. Hat er vorhin vielleicht erwähnt, was los ist?«
Sabiha hackte weiter mit gröÃter Konzentration und winzigen Messerstreichen ein Bund Kräuter und tat so, als hätte sie vor lauter Versunkenheit in die vertraute Tätigkeit seine Frage nicht gehört. Der intensive Duft frischen Korianders erfüllte die Küche.
A m Freitag suchte sie Bruno nicht wie versprochen an seinem Marktstand auf. Sabiha ging gar nicht zum Markt, um ihm nicht versehentlich in die Arme zu laufen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, ihm und seinem Schmerz gegenüberzustehen oder vom Widerstreit ihrer eigenen Gefühle überwältigt zu werden. Ohnehin war sie sehr angespannt und tat nachts kaum ein Auge zu. Als es wieder Dienstag wurde, hielt sie den Atem an, doch Brunos Tomatenlieferung blieb aus. Beim Mittagessen brachte sie keinen Bissen herunter und schob ihren Teller beiseite.
John fragte sie sanft, ob alles in Ordnung sei.
Sabiha ärgerte sich über seine Frage. Sie schloss die Augen, als die Wut in ihr hochschoss.
Er sah sie forschend an. »Ich habe mich auf dem Markt umgehört.«
Sie schlug die Augen wieder auf. »Weswegen?«
»Bruno ist vorzeitig nach Hause gegangen. Vielleicht hat er auch seine Runde gedreht. Niemand konnte mir sagen, was mit ihm los ist.« John trank einen Schluck Wein. »Es ist allen ein Rätsel. Aber wie du schon sagtest: Bruno ist nicht der einzige Tomatenhändler, den wir kennen.« Er lächelte, doch sie gab ihm keine Antwort.
*
Am Sonntagnachmittag war das Wetter kühl und feucht. John wollte mit André angeln gehen. Er küsste Sabiha auf die Wange und trat durch den Perlenvorhang. Sie folgte ihm mit den Augen, während er den Speiseraum durchquerte. Unter dem blauen Parka trug er einen dicken braunen Rollkragenpulli, als versuchte er so auszusehen wie ein richtiger Meeresfischer.
Kaum hatte John
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