Sabihas Lied
die Eingangstür erreicht, drehte er sich um und winkte ihr zum Abschied. Sabiha hatte das Gefühl, dass ihr der Schädel platzte. Sie brüllte: »Mit mir ist alles in Ordnung. Mit dir stimmt etwas nicht!«
John trat auf die StraÃe und zog die Tür hinter sich zu.
Hatte er sie eigentlich gehört? Hatte er nur so getan, als hätte er sie nicht gehört? Am liebsten wäre sie ihm hinterhergerannt und hätte ihn zu einer Reaktion gezwungen, hätte ihm ins Gesicht gebrüllt: Mit dir stimmt etwas nicht, John!
Sie blieb im Durchgang stehen, bis ihr Zittern aufgehört hatte. Sie war froh, ihn angeschrien zu haben. Es konnte nicht schaden, die Wahrheit einmal auszusprechen. Mit ihm stimmte ja wirklich etwas nicht. Verzweifelt blickte sie sich im verwaisten Speiseraum um. Sie hatte John betrogen. Sie konnte nicht offen mit ihm sprechen. Sie war ganz auf sich zurückgeworfen. Sie hatte sich selbst isoliert. Vor Anspannung wurde ihr übel.
*
Am Abend lag sie unruhig neben ihm im Bett, während er wie üblich las. Seit Monaten schon schien er über dem gleichen Buch zu hängen, eine alte Schwarte mit rotem Einband. Etwa jede Minute blätterte er eine Seite um. Das Blättergeräusch reizte bei Sabiha einen offenbar besonders empfindlichen Nerv. Lauernd lag sie da, zählte die Sekunden, wartete darauf, dass er die nächste Seite umblätterte. Es war nicht zu ertragen. Um ihre schreckliche Anspannung zu lösen, drehte sie sich zu ihm und fragte: »Warum hast du nicht reagiert, als ich dich heute Morgen angeschrien habe?«
Auch jetzt dauerte es eine Minute, bis er von seinem Buch aufsah und nachdenklich sagte: »Ich war mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstanden hatte.« Er lächelte. »Vermutlich hast du recht, Liebling. Mit mir stimmt wohl etwas nicht.« Lachend nahm er seine Lektüre wieder auf.
Sie drehte sich zur Wand.
Später, als er das Buch zuklappte und ihren Nacken küsste und ihr zärtlich gute Nacht wünschte, fiel es ihr schwer zu antworten. Was konnte diesen Mann überhaupt aus der Ruhe bringen? Und legte sie es tatsächlich darauf an? Wollte sie vielleicht einen Streit vom Zaun brechen, als Vorwand, um ihm in einem Anfall rasender Wut alles zu beichten? Leichter Schweià bildete sich auf ihrer Haut, und Sabiha fröstelte. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie ihn und sich ins Unglück stürzen. Aber sie konnte eben keinen klaren Gedanken fassen. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte. Vor lauter Sorge und Angst pochte ihr das Blut in den Ohren. Im Versuch, sich zu entspannen, atmete sie ganz langsam ein und aus. Neben ihr war bereits Johns leises Schnarchen zu hören. Wie konnte er nur so blind sein und so sorglos?
Sollten andere Frauen von meiner Geschichte erfahren, werden sie mich verurteilen, dachte sie. Abgesehen von ihrer GroÃmutter und den Urahninnen. Die würden sie bestimmt nicht verurteilen. Sie würden sie in ihre Mitte aufnehmen und den Anklägerinnen trotzen und sie beschützen. Die Berberfrauen waren schon immer stolz und selbstbewusst gewesen und hatten den Männern Respekt eingeflöÃt. Bis zum heutigen Tage verweigerten sie den Schleier, denn sie zogen es vor, ihrem Gegenüber unverhüllt ins Angesicht zu schauen. Diesen Widerstandsgeist habe ich geerbt, dachte Sabiha. Er liegt mir im Blut. John hat kein Fünkchen dieses Geists. Sein Blut ist kühl und ruhig. Meines kocht.
Sie war nicht die erste Frau, die sich zu einem anderen Mann begeben hatte, um ein Kind zu empfangen. Wäre ihre GroÃmutter noch am Leben gewesen, hätte sie Sabiha viele Ehefrauen nennen können, die still und leise diese heikle Lösung gewählt hatten. Plötzlich fragte sie sich, ob es für eine Befruchtung unabdingbar war, dass die Frau mit dem anderen Mann Lust empfand. Was hätte ihre GroÃmutter wohl dazu gesagt?
John schnarchte zufrieden weiter, als wäre zwischen ihnen alles in bester Ordnung. Sie streckte den Arm aus und nahm sein Buch vom Nachttisch. Der Titel lautete Benvenuto Cellini. Mein Leben . Der Umschlag war fleckig und gewellt. John hatte das Buch auf dem Flohmarkt gekauft, den man auf dem Gelände eingerichtet hatte, auf dem früher Pferde geschlachtet wurden. Wozu las er das? Wer sonst las diese vergessenen Bücher? John sprach nie über das, was er gelesen hatte. Er bewegte sich im Schlaf, und sie sah ihn an. Er war ihr in
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