Sabihas Lied
mein Arbeitszimmer zurück. Am Schreibtisch ging ich wieder meine Notizen durch. Ich hatte das Bedürfnis, mich für eine Weile in die Geschichte eines anderen zu versenken.
S abihas vierzehnter Zyklustag fiel wieder auf einen Freitag. Der Rhythmus ihres Körpers wurde von Freitagen bestimmt. Sie trat durch die Hintertür in die kalte, vom stechenden Gestank der Mülltonnen erfüllte Morgenluft hinaus. Oben lag John noch im Bett, wärmte sich die Hände an der Kaffeeschale und las sein Buch, genoss die kostbare Stunde, die er unter der Woche ganz für sich hatte. Sabiha fragte sich, ob er bei seiner einsamen Lektüre in ein groÃzügigeres, glanzvolleres Leben versetzt wurde. Schlüpfte John dann in die Haut des Protagonisten Benvenuto Cellini?
Während sie zu dieser frühen Morgenstunde die Métrostation Porte de Vanves ansteuerte, hing sie in Gedanken ihrem Mann und seinem harmlosen Lesevergnügen nach. Sabiha erzählte beim Singen ihre Geschichten, wie ihre GroÃmutter es getan hatte, wenn sie abends gemeinsam mit ihrem Vater am Feuer saÃen. Aber sie las keine Geschichten. Bücher waren ihr zu ungesellig. Genau wie ihre GroÃmutter war sie der Ãberzeugung, dass Geschichten einen Kreis von Zuhörern brauchten. Die Geschichte wurde vom Erzähler zum Leben erweckt und wie ein Geschenk an die Zuhörer weitergegeben. Im Unterschied zu John sah sie das schriftliche Erzählen nicht als überlegene Weiterentwicklung des mündlichen Erzählens an. Sie würde ihrem Kind die Geschichten vorsingen, und so würde das Kind, das warm und schläfrig an ihrer Brust lag, einen innigen Zugang zu den Geschichten erhalten, die für immer mit der Stimme seiner Mutter verbunden wären. Johns Bücher kamen Sabiha dagegen engherzig vor, sie schlossen andere aus, wirkten im Verborgenen, verführten zur Einsiedelei. Sie vermittelten ihr ein Gefühl von Einsamkeit, mit diesem stummen Innenleben, das zwischen zwei Deckeln gefangen war.
Als Sabiha am Ziel war, stieg sie aus der Métro und ging zu den Markthallen. Hier war die Stadt schon seit Stunden wach. Immer wenn sie sich dem hell erleuchteten Eingang näherte, musste sie an Aladins Höhle denken; sogar an diesem Morgen flackerte kurz die Begeisterung auf, die sie beim ersten Mal angesichts der ganzen bunten Pracht und Fülle empfunden hatte. Als Kind hatte sie nichts Vergleichbares zu sehen bekommen, und so würde der Markt für sie immer ein magischer Ort bleiben.
Dieses Mal hatte nichts von der schlichten Erhabenheit ihres ersten Besuchs bei Bruno. Es quälte sie, ihre Vorbereitungen in der stinkenden Toilette zu treffen. Es schien ihr so kaltblütig zu sein. So berechnend. Und sie konnte auch nicht ausschlieÃen, dass sie ein zweites Mal scheitern würde. Wie trostlos es hier war. Sie kam sich vor wie ein Tier, als sie über der Toilettenschüssel hockte. Aber sie würde es durchziehen. Sie würde auf keinen Fall aufgeben. Sie würde kein Dasein als unfruchtbare Ehefrau fristen.
Sabiha verlieà die Toilette und bog in den Hauptgang ein, ihre Unterhose in der rechten und eine Binde in der linken Manteltasche. Brunos Stand befand sich ganz hinten links in der Ecke. Während sie an zahllosen Obst- und Gemüseständen vorbeiging, spürte Sabiha eine Gänsehaut an ihren Schenkeln. Sie fühlte sich leicht fiebrig, wie als kleines Mädchen, wenn sie aus Angst vor ihrer Lehrerin Zitteranfälle bekam und inständig hoffte, dass ihre Mutter sie zu Hause behalten und nicht in die Schule schicken würde. Sie wusste, es war nichts Ernstes, kein Symptom einer körperlichen Erkrankung.
Unterwegs begegneten ihr drei Frauen mit Kinderwagen, eine nach der anderen, als sollte sie dadurch ein Zeichen erhalten. Doch Sabiha hatte anderen Frauen nie ihre Kinder geneidet. Sie war sicher, dass die Mutterschaft, die andere Frauen erlebten, sich von der Mutterschaft unterschied, die sie eines Tages erleben würde. Sie interessierte sich nicht für die Kinder anderer Frauen, die Welt der Mütter war ihr gleichgültig. Sie und ihr Kind waren einzigartig. Sie waren untrennbar miteinander verbunden. Für Sabiha handelte es sich um ein Mysterium. Sie wollte dafür keine Erklärung, sie wollte sich nur darauf einlassen.
Ob Bruno toben würde, wenn er sie sah? Ob er ihr zubrüllen würde, sie solle verschwinden? Ob er sie beschuldigen würde, seine Ehe und
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