Sabihas Lied
sein Leben zu zerstören? Es überlief sie heià und kalt, wenn sie daran dachte. Trotzdem ging sie weiter. Wenn sie es jetzt nicht tat â¦
In den Augen ehrbarer Bürger wäre sie kaum mehr wert als eine Hure, wenn ihre Tat ruchbar würde. Beim zweiten Mal strahlte Sabihas heldenhaftes Vorhaben, sich ihres Kindes zu bemächtigen, nicht mehr ganz so hell. Es hatte etwas von einer Verzweiflungstat, einem allerletzten Versuch, sie drohte sich immer tiefer in etwas zu verstricken, aus dem sie sich nie wieder würde befreien können. Der süÃe Traum stand unmittelbar davor, sich in einen Alptraum zu verwandeln, der das verschlungene Netz ihrer Illusionen in die Abgründe ihres Selbsts auswerfen würde â um welche Ungeheuer zu fangen?
Ihre Blicke trafen sich.
Sabiha blieb stehen. Fasste sich an die Kehle.
Bruno stand am anderen Ende des Durchgangs, der die Obst- und Gemüsestände von den GroÃhändlern trennte. Er unterhielt sich mit einem Mann, sah zufällig über dessen Schulter hinweg und schlug Sabiha mit seinem schmerzlichen Blick in Bann.
Brunos Gesprächspartner drehte sich um und sah Sabiha ebenfalls an. Ob Bruno ihm etwas verraten hatte? Der Gedanke erfüllte sie mit Scham. Sehen Sie die Frau dort drüben, die uns gerade anschaut? Sie will zu mir. Wissen Sie, was ich meine? Sie kann mir einfach nicht widerstehen. Da habe ich mir was Hübsches angelacht, was? Das könnte Bruno zu dem anderen gesagt haben, nur so zum SpaÃ. Männer. Und sie, die Frau. Aber der Mann drehte sich gleich wieder um, gab Bruno die Hand und ging weg, ohne Sabiha noch einmal anzusehen.
Bruno kam auf sie zu, schlängelte sich durch das Gedränge, verschwand zwischendurch hinter einer Pyramide aus goldgelben Melonen und tauchte wieder auf. Er beeilte sich nicht. Trotz der morgendlichen Kälte war sein rotkariertes Hemd am Hals aufgeknöpft, er hatte die Ãrmel aufgerollt, die schwarzen Locken fielen ihm auf die Schultern. Mit seiner Lederschürze wirkte er wie ein Mann, der selbst ein stolzes Zugpferd mit der kleinsten Halfterbewegung dazu bringen konnte, vor ihm niederzuknien. Hier war sein Reich.
Sabiha fuhr zusammen. Sie spürte einen stechenden Schmerz in den Eingeweiden, als bohrte sich ein Messer in ihren Bauch.
Er trat auf sie zu. Ohne zu lächeln. Sah ihr tief in die Augen. Und dann nahm er ihre Hand und führte sie den ganzen Weg zurück, den er eben gegangen war.
Ihr wurde schwindlig, als er sie berührte. Sie folgte ihm zu seinem Lieferwagen, ohne den Boden unter ihren FüÃen zu spüren. Am liebsten hätte sie aufgeschrien und sich von ihm losgerissen und wäre weggerannt.
*
Er nahm sie zärtlich, liebevoll, mit Koseworten, Seufzern, Lachen. In einer flüchtigen Anwandlung von Wahnsinn malte sich Sabiha ein anderes Leben für sie beide aus, ein Leben, in dem sie ihre Geschichte bis zum Ende durchspielten. Eine Geschichte ohne seine elf Kinder, ohne seine Angela, ohne ihren John, sogar ohne ihr Kind. Eine richtige Liebesgeschichte, nur sie und Bruno und die unendlich köstlichen Qualen der Lust. In diesem Moment gröÃter, peinigender Seligkeit konnte sie an nichts anderes denken â¦
Sabiha rang nach Luft, als er sich zurückzog. Diesmal war sie diejenige, die weinte.
Während sie im Dunkeln schniefend nach ihren Sachen tastete, sich immer wieder die Tränen von den Wangen wischte, die Binde einlegte und ihre Kleidung zurechtzupfte, spürte sie die ganze Zeit, wie er neben ihr wartete, geduldig, mit einer geradezu unmenschlichen Reglosigkeit, wie ein lauerndes Tier, ohne einen Laut von sich zu geben, von der Atmung abgesehen. Danach richtete sie sich auf und versuchte zu erkennen, wo er genau stand. Mit ihrem Taschentuch trocknete sie sich die Augen und putzte sich die Nase. Hinter ihr drang Licht durch den Spalt zwischen den Ladetüren, Licht, das von seinen Augen reflektiert wurde, zwei leuchtende Punkte in der Dunkelheit.
»Sag bitte nichts!« Sie knöpfte ihren Mantel zu.
»Meine Sabiha«, sagte er zärtlich, mit einem Anflug von Traurigkeit. Er streckte die Hand aus, berührte ihre Schulter, beschwor sie inständig. »Ich denke die ganze Zeit an dich. Ich wäre darüber hinweggekommen, wenn du mich heute nicht wieder aufgesucht hättest. Ich wäre zwar nicht mehr derselbe, aber ich hätte mich besonnen.« Er lachte leise. »Jetzt bin ich verloren. Jetzt bin ich
Weitere Kostenlose Bücher