Sabihas Lied
»Ich frage mich, ob meine ärgsten Befürchtungen sich plötzlich bewahrheiten werden. Ich lebe in zwei Welten, Sabiha. In ihrer Welt und in unserer. So ist es. Während ich jetzt mit dir spreche, wird mir das klar. Mir wird auf einmal alles klar. Wenn du nicht bei mir bist, bin ich verwirrt, voller Zweifel und Ungewissheit, ich denke pausenlos an dich. Tag und Nacht. Aber jetzt, da du wieder bei mir bist, sehe ich klar. Im Herzen bin ich meiner Angela treu und werde ihr treu sein bis zu meinem Tod. Für dich hört sich das sicher seltsam an. In deiner und meiner Welt liebe ich nur dich.« Er verstummte. Es war nur das leise Quietschen der Federung zu hören. »Wenn diese zwei Welten aufeinandertreffen, werden beide zerstört werden.« Das war seine Schlussfolgerung. Schlicht und ergreifend. Unwiderlegbar. Genauso gut hätte er über eine seltene und eindrucksvolle Naturerscheinung sprechen können, die er zufällig entdeckt hatte.
Sabiha wartete mit geschlossenen Augen darauf, dass er zu Ende sprach.
»Schwöre mir, dass du nächsten Freitag wiederkommst.« Er strich ihr mit dem Finger über die Wange.
»Das kann ich nicht.«
»Ich habe davon geträumt, jetzt habe ich es wirklich erlebt und es macht mich so froh. Ich kann nicht in mein altes Leben zurück.«
»Ich bin zu dir gekommen, um ein Kind zu empfangen«, sagte sie. »Nicht aus Liebe zu dir. Ich liebe John.«
Er schwieg.
Sein Atem auf ihrer Wange. Sein Keuchen in ihrem Ohr. Seine Hand um ihre Brust.
»Sei doch ein Mann «, sagte Sabiha. Sie zog seine Hand weg. Er lieà es geschehen und legte ihr stattdessen den Arm um die Schulter. Sie fragte: »Warum kannst du nicht einfach annehmen, was ich dir gegeben habe, und wieder zur Tagesordnung übergehen? So wie andere Männer.«
»Was für Männer? Hat es andere Männer gegeben?«
»Nein! Natürlich nicht. Du bist der Einzige.«
»Ach ja?« Er zögerte. »Schon gut, ich glaube dir. Wenn ich nicht weiÃ, wann ich dich wiedersehen kann, werde ich leiden wie ein Hund«, sagte er. Sein Ton war ganz sachlich, als erörterten sie ein alltägliches, leicht lösbares Problem. »Wenn ich es aber weiÃ, kann ich im Vorfeld davon träumen und die Stunden zählen.«
»Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte sie.
Sabiha rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Eine unbestimmte Erwartung hing in der Luft. Sie und Bruno waren durch unsichtbare Kraftwellen verbunden. Sie wartete ab, was als Nächstes kommen würde.
Er lachte. Ein zärtliches, staunendes Lachen. »Du hast aus mir einen anderen gemacht. Einen Mann, den ich kaum kenne.« Und wieder lachte er, zutiefst erheitert, während er ihr von dieser erstaunlichen Verwandlung erzählte. »Ich nenne ihn den neuen Mann. Du hast ihn in mir erkannt. Du hast gesehen, wie er auf dich wartete, du hast ihn gerufen, und er ist auf dich zugekommen.« Er schwieg eine Weile. Sie spürte seinen Arm um ihre Schulter, er drückte sie an sich. Leise fuhr er fort: »Ich glaube nicht, dass dieser neue Mann lange leben wird.«
»Sag so etwas nicht! Bitte! So etwas darfst du nicht sagen.« Sabiha bekam furchtbare Angst, dass es, einmal ausgesprochen, wahr werden könnte.
»Ich sehe es kommen«, sagte Bruno. »Ich weiÃ, wohin das führen wird. Und jetzt kann ich nicht mal zum Pfarrer gehen und meine Beichte ablegen. Denn ich habe meinen Glauben verraten. Ich habe Gott betrogen. Ich bewahre uns als Geheimnis in meinem Herzen. Ich lüge Gott an.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Als ich zu deinen FüÃen geweint habe, tat ich es aus Verzweiflung. Er hat es damals schon gesehen, der alte Bruno, er trauerte, weil er sich schuldig gemacht hatte. Er wusste, dass er verloren war. Der neue Bruno, der Mann, den du aus mir gemacht hast, hatte sich noch nicht erhoben. Jetzt weià Bruno, dass er nicht in sein altes Ich zurückkehren kann.« Er verstummte, strich ihr abwesend übers Haar.
Sie riss sich los und zupfte ihren Mantel zurecht. »Ich gehe jetzt.«
»Kommst du mich wieder besuchen?«
»Nein. Es ist vorbei.«
» Das wird niemals vorbei sein, meine Sabiha«, sagte er mit Gleichmut. »Solange du und ich leben, wird es nie vorbei sein. Alles andere ist für mich vorbei. Meine Angela. Meine Familie. Sie sind für mich auf immer verloren. Bei mir zu Hause ist jetzt alles Lug und
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