Sabihas Lied
Eingangstür nicht richtig geschlossen, sie schwang hin und her und lieà eisige feuchte Luft eindringen. Nejib war als Einziger geblieben.
»Nejib, um Himmels willen! Wer ist dieser Mann?«, fragte John.
Nejib betrachtete Bruno und Sabiha. Mit unendlich trauriger Stimme antwortete er: »Mein Bruder.«
*
Bei der Autopsie sollte sich herausstellen, dass das Messer, das Nejibs Bruder in der rechten Hand versteckt hielt, Brunos Bauchaorta sauber durchtrennt hatte. Der Tod erfolgte binnen weniger Sekunden. Genau wie einstmals bei Dom Pakos.
S oeben vom Präsidium zurückgekehrt, stand John noch mit Schal und im alten braunen Mantel am Schlafzimmerfenster. Auf der StraÃe war es wieder still, das Blaulicht der Polizeiautos und des Krankenwagens war schon seit Stunden verschwunden, genau wie die Polizistenhorde, die im Café eingefallen war. Doch John hatte sie noch lebhaft vor Augen. Er wandte sich Sabiha zu. Sie saà in ihrem hellen Nachthemd am Bettrand, mit bloÃen FüÃen, die alte blaue Decke um die Schultern drapiert. Sie sah aus, als hätte man sie aus dem Meer gerettet und ihr dann mitgeteilt, dass ihre Lieben ertrunken waren.
»Was hast du ihnen erzählt?«, fragte sie.
»Sie wollten nur wissen, was passiert ist. Nach meiner Meinung haben sie nicht gefragt. Ich habe ihnen einfach erzählt, was ich gesehen habe.«
Sabiha schwieg. Nach einer langen Pause fuhr John fort: »Die meiste Zeit habe ich wartend im Flur verbracht.«
Kaltes blaues Morgenlicht zog am Pariser Himmel herauf, als hätte jemand heimlich einen Brunnendeckel gelüpft.
Sie hatten beide nicht geschlafen.
»Man weià nie, was in so einem Polizistenkopf vorgeht«, sagte er. »Ich hatte das Gefühl, dass sie mich verdächtigen, Bruno getötet zu haben. Sie verdächtigen jeden. Sie werden vermutlich Nejib in Gewahrsam behalten, bis sie seinen Bruder finden.«
Darauf folgte wieder eine lange Pause.
»Ich hätte ihn retten können. Ich stand einfach nur da und habe zugesehen. Nicht zu fassen, dass ich nichts unternommen habe«, sagte er schlieÃlich.
Brunos Tod hatte alles verändert. Sabiha verkündete: »Ich bin eine Verbrecherin.«
John sah sie entsetzt an. »Wie kannst du so etwas sagen? Das darfst du nicht. Nicht einmal im Scherz. Dich trifft nicht die geringste Schuld. Du bist bloà erschöpft. Wir sind beide erschöpft. Wie kommst du nur darauf, so etwas zu sagen?«
Er wandte sich wieder dem Fenster zu. Unten schleifte und ruckelte die StraÃenreinigungsmaschine am Bordstein entlang. Er musste an ein verwundetes Pferd denken, das den Weg nach Hause sucht, ein Gespenst aus der Zeit der Abbattoirs , das auf die grünen Felder zurückkehren will. Inzwischen befand sich anstelle der ehemaligen Schlachthöfe von Vaugirard, die er bei seiner Ankunft in Paris noch erlebt hatte, ein Park. Anstelle der Schlachtbank würde ein Pferd nun grüne Wiesen vorfinden.
Als John hinter sich ein ersticktes Geräusch hörte, wirbelte er herum. Sabiha saà vornübergebeugt und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Er setzte sich zu ihr und nahm sie in die Arme. Während er sie tröstend an sich drückte, flackerte das gelbe Licht der Reinigungsmaschine an der Decke auf.
»Als Nejibs Bruder den Arm um Bruno legte, dachte ich, er wollte mit ihm Frieden schlieÃen. Und dann habe ich eine oder zwei Sekunden nicht mehr richtig aufgepasst. Ich dachte, ich hätte dem Mann unrecht getan. Ich habe Bruno im Stich gelassen, anstatt ihm beizustehen. Ich hatte es doch kommen sehen und habe nichts dagegen unternommen. Die beiden müssen sich abgrundtief gehasst haben«, sagte John.
»Ich bin schwanger. Von Bruno«, sagte Sabiha.
Er lehnte sich zurück, um sie anzusehen.
»Bruno war in mich verliebt«, erklärte sie.
» Schwanger? « Er schüttelte sie leicht. »Du kannst nicht schwanger sein.«
Ihre dunklen Augen blickten ihn ernst an. »Ich bekomme Brunos Kind.«
Mit einer wegwerfenden Geste stand er auf. »Was soll das? Was heiÃt schwanger ? Du kannst doch gar nicht schwanger sein.« Er tat zwei Schritte auf das Fenster zu und drehte sich jäh wieder um. »Warum tust du das?«, fragte er. »Was soll das?«
Sie hielt seinem Blick stand.
»Mein Gott«, sagte er leise. »Es stimmt also.« Er lachte hohl. »Und ich dachte, du machst gerade die Wechseljahre durch.« Er sah
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