SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Versehen: Denn der bürgerliche Leser der »FAZ« verkörperte geradezu den typischen Sarrazin-Leser. Man konnte das besonders hübsch beobachten, als im Oktober 2010 ein Diskussionsabend mit Sarrazin in München abgehalten wurde. Das Münchner Literaturhaus hatte eingeladen, und weil so viele Leute kommen wollten, verlegte man die Veranstaltung in eine Reithalle. Der Chef des Literaturhauses, Reinhard Wittmann, sagte der »Süddeutschen Zeitung«: »Das war nicht die ungebildete Masse.« Und der »SZ«-Reporter Peter Fahrenholz bemerkte dazu: »Und doch ist der Abend gründlich schiefgegangen. Denn das gediegene Münchner Bürgertum hat sich schrecklich danebenbenommen.« Der damalige Chefredakteur des »Handelsblatts«, Gabor Steingart, und Armin Nassehi, Soziologieprofessor der Ludwig-Maximilians-Universität München, hatten die undankbare Aufgabe angenommen, mit Sarrazin ein kritisches Gespräch über Buch und Rezeption zu führen. Sarrazin verweigerte sich den Einwänden, und das Publikum bestärkte ihn darin, indem es sich als bürgerlicher Pöbel erwies, der seinen Volkstribun hinter einem Panzer aus aufgeheizter Stimmung vor jeder Kritik in Schutz nahm.
»In der Münchner Reithalle herrschte ein Hauch von Sportpalast«, schrieb der Journalist Fahrenholz: »Gut gekleidete Grauköpfe ereiferten sich nicht nur, sie geiferten. ›Ich bin wirklich erschrocken gewesen‹, sagte Nassehi am Tag danach. Nassehi ist ein geübter Diskutant und Vortragsredner, aber so etwas, bekennt er, ›habe ich noch nicht erlebt‹. Dabei haben sowohl Steingart als auch Nassehi Einwände gegen Sarrazins Buch vorgebracht, über die zu diskutieren gelohnt hätte. Steingart hielt Sarrazin neben den verquasten Passagen zum Thema Intelligenz vor allem den feindseligen Ton vor. ›So redet man nicht mit Menschen‹, sagte Steingart. Er jedenfalls habe sich nach der Lektüre den Kopftuchmädchen näher gefühlt als je zuvor. Für dieses Bekenntnis erntete der Journalist heftige Buh-Rufe.«
Am anderen Ende der Republik, in Potsdam, konnte man erleben, dass sich Sarrazins Jünger nicht einmal daran störten, selbst mit dem Bade seiner ressentimentgeladenen Logik ausgeschüttet zu werden. Es war ein Stück Realsatire, als Sarrazin auf einer Veranstaltung unter dem zustimmenden Gemurmel seines ostdeutschen Publikums seine These erläuterte, dass Ostdeutsche dümmer seien als Westdeutsche. Der Satiriker Martin Sonneborn hatte sich ins Publikum gemischt und war dann, als die Diskussion für Fragen geöffnet wurde, ans Mikrophon getreten: »Herr Sarrazin, Sie schreiben, dass Schwaben einen höheren Intelligenzquotienten als Uckermärker haben. Kann man daraus schlussfolgern, dass Ostdeutsche grundsätzlich dümmer sind als Westdeutsche?« Da kam nur ein leises Gemurmel im Saal auf, aber kein Protest, und Sarrazin antwortete ungerührt: »Nein, ich zitiere aus einer Untersuchung der Bundeswehr – sie macht Intelligenztests mit den Wehrpflichtigen, sie macht das seit Jahrzehnten und sie entdeckt ein Intelligenzgefälle. Es gibt ein Intelligenzhoch in Dresden und um Sachsen rum – es gibt Intelligenztiefs auch in Westdeutschland, die Wissenschaft rätselt daran rum. Man vermutet, dass es mit Wanderungsbewegungen zu tun hat. Wenn nämlich Intelligentere aus dem einen Gebiet abwandern, dann sinkt dort der Durchschnitt des Restes, und wenn sie in andere Gebiete zuwandern, dann steigt dort der Durchschnitt der Gesunden, äh, der Grundgesamtheit.«
Als öffentliche Figur war Sarrazin eine kuriose Erscheinung: eine Mischung aus Dieter Hallervorden und Ekel Alfred. In der SPD war Sarrazin gleichsam der Idiot der Familie. Er sagte die Sachen, die alle dachten, aber nicht aussprachen. Die SPD hat versucht, sich von Sarrazin zu befreien. Es ist ihr nicht gelungen. Das war ein Fehler. Sein pseudowissenschaftlicher Rechtspopulismus hatte mit Sozialdemokratie nichts zu tun. In ganz Europa werden rechte Ausländerfeinde und Europaskeptiker stärker. Deutschland steht das noch bevor. Mit Sarrazins Ausschluss hätte die SPD ein Zeichen gegen die neue Rechte gesetzt. Ihr fehlte dafür der Mut.
Sigmar Gabriel hatte sich im Sommer 2010 für einen Ausschluss ausgesprochen, das war richtig. Falsch war es, dass er seine Generalsekretärin Andrea Nahles dann mit der Sache allein gelassen hatte. Der Parteivorstand hatte den Ausschluss zunächst noch einhellig unterstützt. Aber dann drehte sich Nahles um und stellte fest: Keiner steht hinter ihr. Die
Weitere Kostenlose Bücher