SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung getrennte Wege. Die Medien haben – im Wesentlichen – ihre Arbeit getan und zu Guttenberg und Wulff dorthin befördert, wohin sie gehören: ins Aus. Aber die Öffentlichkeit hat das den Medien übelgenommen. Die Medien werden sich das merken.
Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hatte zunächst noch »Bild« und »Zeit« auf seiner Seite, den Rest der lesenswerten Presse aber gegen sich. Bundespräsident Wulff hatte es dahin gebracht, dass buchstäblich alle gegen ihn waren: Springers Boulevardkanone, die konservativen »Zeit«-Kollegen, der linke »Freitag«, der »Spiegel«, die Sonntagszeitungen, die großen überregionalen Tageszeitungen, die wichtigen Lokalblätter – selbst wenn man lange nachdenkt, fällt einem keine Gelegenheit ein, wo sich die Journalisten so einig waren wie im Fall Wulff. Und für die Fernsehsender, soweit sie sich für Politik noch interessieren oder es ihr öffentlich-rechtlicher Status erlaubt, galt mehr oder weniger dasselbe.
Die Umfragen aber sagten, dass die Leute durchaus nicht diese Meinung der Presse teilten: Das Volk hatte Wulff nicht gegen sich. Ebenso wie zu Guttenberg, der trotz einer klaren Beweislage, was Qualität und Quellen seiner Doktorarbeit anging, seine große Beliebtheit nicht einbüßte. Unsere Gesellschaft ist auf eine funktionierende Öffentlichkeit angewiesen. Es ist darum auf Dauer nicht gut, wenn das Publikum sich von seinen Medien nicht verstanden fühlt.
Es war im Fall zu Guttenberg wie auch im späteren Fall Wulff eine merkwürdig trotzige Haltung zu spüren, ein wütender Vorwurf: »Den lassen wir uns von euch nicht kaputtmachen.« Als es beim Bundespräsidenten noch um nicht mehr ging als den Kredit für das Kleinklinkerhäuschen, fanden 70 Prozent der Deutschen, er solle im Amt bleiben. Gleichzeitig waren aber nur noch 43 Prozent der Auffassung, dass er »in moralischen Fragen den richtigen Kompass hat«. Die Deutschen hatten es offenbar aufgegeben, an ihren Präsidenten einen höheren Maßstab anzulegen als an sich selbst.
Man mag das für ein Zeichen der besonderen politischen Reife halten. Oder für eines der Abstumpfung.
09 HOFFNUNG
Reenactment nennt man die Wiederholung vergangener Ereignisse. In Pennsylvania wird die Schlacht von Gettysburg nachgestellt oder in Oberammergau die Passion Christi. Die Menschen betreiben solche rituelle Wiederholung aus religiösem Eifer, aus historischer Neugierde oder eben aus traumatischem Drang. Denn es kennt ja auch die Psychoanalyse dieses Phänomen: Freud sprach vom Wiederholungszwang. Es ist das Kennzeichen der Neurose, dass die unverarbeitete Vergangenheit wiederholt werden will. Nicht nur bei Individuen kommt das vor. Auch bei Völkern, Staaten, Institutionen. Wo immer ein Gedächtnis ist, kann es in Mitleidenschaft gezogen sein. Und gewiss haben Völker, Staaten und Institutionen ein Gedächtnis. Die Linken in Deutschland haben jedenfalls eines. Und immer aufs Neue durchleben sie das Trauma der Spaltung. Es begann 1875 mit Marx’ »Kritik des Gothaer Programms«, die sich gegen die zu wenig revolutionäre SPD richtete und einer kommunistisch-sozialdemokratischen Zusammenarbeit eine Absage erteilte. Richard Sennett nennt die Streitschrift einen »Gründungstext des Brudermords innerhalb der Linken«.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zerbrach dann ihrerseits über der Frage nach Krieg und Frieden, als sich im Jahr 1917 die USDP abspaltete. Das zweite Mal zersplitterte die SPD über der Frage der Gerechtigkeit, als 2007 die Linkspartei gegründet wurde. Von der USDP spaltete sich später die KPD ab, und der Rest kehrte zur Sozialdemokratie zurück. Und wenn man sich die Wirren ansieht, in die sich die Linkspartei begeben hat, muss man für möglich halten, dass ihr ein ähnliches Schicksal droht.
Die Hauptdarsteller dieser Partei – Gysi, Lafontaine, Wagenknecht, Bartsch – haben in der jüngeren Vergangenheit eine Art linker Passionsgeschichte aufgeführt, ein Reenactment , auf das man gerne verzichtet hätte. Eine erschreckend gelungene Neuinszenierung des linken Spaltungsdramas, das sich vor 100 Jahren abgespielt hat.
Wer vielleicht über die besseren Argumente verfügt, aber über die schwächeren Kräfte, wer also in der Opposition ist, für den ist Einheit die erste Pflicht. Alles andere kommt später. Ohne Einheit keine Handlungsfähigkeit. Spaltung ist da ein geradezu paradigmatisches Beispiel für unverantwortliche
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