Saeculum
wirkliche Beweis dafür, dass es in diesem Wald zumindest noch einen weiteren Menschen gab.
Jemand teilt diese unterirdischen Hallen mit uns und singt uns sein schauriges nächtliches Lied. Und wir sitzen um unser Feuer, klein vor Angst, aber hell beleuchtet wie auf einer Bühne.
Trotzdem war Bastian dankbar dafür, dass sie den ständig an- und abschwellenden Gesang wenigstens nicht im Finstern ertragen mussten. Wenn etwas sich ihnen nähern sollte, würden sie es sehen.
Dann hielt Ralf es nicht mehr aus. Auf allen vieren kroch er zu Paul hinüber und rüttelte ihn an der Schulter.
»Paul! Bitte! Hörst du das nicht?«
Bastian riss ihn zurück. »Spinnst du? Lass ihn in Ruhe, er ist den ganzen Tag rumgelaufen, hat Arno geschleppt, hat sich kaum mal zwei Minuten lang ausruhen können - was willst du von ihm?«
»Er ist doch der Stärkste von uns«, wimmerte Ralf. »Er weiß sicher, was wir tun sollen, und ich hab solche Angst, ich will hier nicht bleiben. Doro hat gesagt, das hier ist unser Grab, und ich will nicht sterben. Bitte, Paul, wach auf, bitte …«
Jetzt schluchzte er bei jedem Wort, seine rechte Hand war in Pauls Hemd verkrallt, und bevor Bastian ihn wegzerren konnte, hatte Ralf sein Ziel erreicht: Paul schlug die Augen auf.
Er wirkte nur einen winzigen Moment lang desorientiert, dann war sofort Wachsamkeit in seinen Augen zu erkennen. »Was ist das?«
»Wissen wir nicht«, antwortete Ralf und schniefte. »Doro sagt, es sind -«
»Doro!«, schnaubte Paul. Mit einem Satz war er auf den Beinen und ging ein paar Schritte auf das Heulen und den finsteren Korridor zu.
»Nicht!« Ralf hängte sich an seine Schulter. »Das ist viel zu gefährlich.«
»Lass ihn doch«, meldete Doro sich leise zu Wort. »Er hält nichts von guten Ratschlägen.«
Bastian gestand es sich ungern ein, aber im Grunde war er Ralfs Meinung. Er wünschte sich, Paul wäre vorsichtig, sie brauchten ihn, und das Ding in der Finsternis heulte nicht ängstlich, sondern angriffslustig. Es klang, als hätte es scharfe Zähne, lang und spitz. Oder eher ein Messer, denn wahrscheinlich war es ein Mensch, obwohl Bastian das allmählich nicht mehr sicher zu sagen vermochte.
Heulen. Kurze Pause. Ein Schrei, irgendwo zwischen Schmerz und Wut. Wieder Heulen.
Auch Paul lauschte angestrengt. Sein Gesicht war hart, seine Kiefermuskeln traten hervor, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er holte tief Luft und dann tat er etwas, das alle anderen vor Schreck zurückprallen ließ.
»Schnauze halten!«, brüllte er durch das Gewölbe. »Es ist mir egal, wer oder was du bist, du wirst jetzt sofort still sein!« Sein Schrei hallte von allen Seiten zurück, brach sich an den Wänden, tönte vielfach wider.
Das Heulen verebbte.
Sie lauschten, doch alles, was sie noch zu hören bekamen, waren Tropfen, die von der Decke fielen und in die großen Lachen platschten, die sich in den vergangenen Stunden am Boden gebildet hatten.
Stille. Dann … ein leises Kichern, das aus der Dunkelheit auf sie zukroch.
Doros beschwörender Singsang wurde schneller.
Simon, dachte Bastian. Sein Blick flog zu Iris, die leicht vorgebeugt dastand, fluchtbereit, doch eine Hand am Gürtel. Dort, wo ihr Messer steckte.
»Jetzt werden wir für deine Unvorsichtigkeit büßen«, flüsterte Alma. »Du hast sie verärgert, Paul. Du hast sie gereizt.«
»So?« Paul verschränkte die Arme vor der Brust. »Das beruht dann auf Gegenseitigkeit.«
Obwohl er sich lächerlich dabei vorkam, zog Bastian sein Holzschwert aus dem Gürtel. Es lag schwer in seiner Hand. Gut. Man würde jemandem damit richtig wehtun können. Iris stellte sich zu ihm und er legte einen Arm um sie.
»Sieht das hier für dich nach Simon aus?«, flüsterte er. »Ist das sein Stil? Gespenst spielen in der Nacht?«
Iris überlegte. »Nein. Er hätte uns eher ein Schweineauge entgegengerollt oder einen toten Hasen an die Wand genagelt. Jemandem im Schlaf die Haare abgefackelt. Aber Verstecken spielen ist nicht seine Sache.«
Sie warteten, doch nichts passierte. Nur die Tropfen fielen und hackten die Stille in Stücke.
Lisbeth hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und ihr Gesicht vom Feuer weggedreht; sie biss sich auf die blassen Lippen, als müsse sie sich konzentrieren. Georg sah immer wieder mit besorgt gerunzelter Stirn zu ihr, während er die Flammen mit weiteren Holzstücken nährte.
»Genug.« Pauls Stimme war völlig ruhig. »Ich bin dafür, wir sehen nach, was uns geweckt hat.« Aus seinem
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