Saemtliche Dramen
Unerschöpfliche Rebe! Oh du, Harfe des neuen David, Tafel des zweiten Moses! Da Gott an dir einzig um der Sünder willen gelitten hat, flehe ich Sünder dich um deine Gnade an, auf dass sie mir Gerechtigkeit gebe. Was dir gegeben wurde, du musst es mir jetzt erstatten! Und wäre ich der einzige Sünder auf Erden, so wäre Gott für mich allein gestorben. Ohne meine Vergehen hätte er nicht an dir gelitten. Für mich, für mich allein stehst du heute da.
Oh heiliges Kreuz! Mein Herz hat dich seit seinem ersten Schlag mit grenzenlosem Glauben und Liebe angebetet, damit du nicht erlaubst, dass ich ohne Beichte sterbe. Ich wäre nicht der erste Übeltäter, der sich an deinem Fuße Gott überantwortet. Auch mir, der ich bereue, wird sich die Erlösung nicht verweigern, die sich dank deiner bereits einmal ereignet hat!
Lisardo! Als du verletzt in meinen Armen lagst und ich dich hätte töten können, in jenem flüchtigen Augenblick, da die irdischen Bande sich lösten, verschaffte ich dir die Möglichkeit zur Beichte. Und jetzt, da sich der Tod schon auf mich senkt, wende ich mich an dich und auch an jenen Greis, der mir sein Versprechen gab, und bitte euch um Erbarmen. Sieh mich an, Lisardo, ich sterbe … erhöre mich, Alberto, ich rufe nach dir!
( CURCIO kommt dazu.)
CURCIO
Er ist nicht fern.
EUSEBIO
Kommst du, mich zu töten, so wirst du mir ohne Mühe ein Leben entreißen, das schon aus mir weicht.
CURCIO
Selbst ein Fels müsste gerührt sein angesichts von so viel vergossenem Blut … Eusebio, gib mir dein Schwert.
EUSEBIO
Wem?
CURCIO
Gib es Curcio.
EUSEBIO
Curcio? Hier ist es. (Er gibt es ihm.) Und jetzt bitte ich dich auch zu deinen Füßen um Vergebung für jene alte Kränkung … Mehr kann ich nicht sagen … Mein Leben strömt aus meinen Wunden. Meine gepeinigte Seele tritt ins ewige Dunkel ein.
CURCIO
Gibt es denn auf dieser Welt keine Hilfe mehr?
EUSEBIO
Nur Gott allein vermag die Seelen zu heilen.
CURCIO
Wo bist du verwundet?
EUSEBIO
An der Brust.
CURCIO
Lass mich deinen Herzschlag fühlen … Oh weh! (Er entblößt Eusebios Brust und entdeckt das Kreuz darauf.) Was ist das für ein göttliches, geheimnisvolles Zeichen, dessen Anblick meine Seele ergreift?
EUSEBIO
Das ist das Wappen, das ich von jenem Kreuz erhielt, an dessen Fuß ich zur Welt kam. Mehr weiß ich nicht über meine Geburt … ich verurteile meinen Vater nicht, der mir ein Heim versagte. Er sah wahrscheinlich bereits das Böse in mir … ja, genau hier kam ich zur Welt.
CURCIO
Und genau hier mischen sich Schmerz und Freude, hier begegnen sich die widerstreitenden Wirkungen eines grausamen, herrschsüchtigen Willens, hier erheben sich zwei Schreie, gespeist aus Dankbarkeit und Leid!
Ach, mein Sohn, da bist du endlich, und ich verzweifle inmitten meines Glücks. Du, Eusebio, bist mein Sohn, wenn ich all den vielen Zeichen glauben soll, und ich muss erleben, dass ich dich in diesem ausweglosen Moment wiederfinde, in dem ich dich verliere. Dein Bericht bestätigt, was meine Seele bereits geahnt hat. Deine Mutter verließ dich eben an diesem Orte, wo ich dich heute finde. Der Himmel straft mich dort, wo ich gesündigt, und dieser Ort selbst lehrt mich, meine Irrtümer zu erkennen. Welch größeres Zeichen kann ich erwarten als dieses Kreuz, das Gegenstück zu demjenigen, das Julia auf ihrer Brust trägt? Der Himmel zeichnete euch beide geheimnisvoll, auf dass ihr beide für die ganze Welt ein einziges Wunder seid.
EUSEBIO
Vater, oh Vater! Ich kann nicht mehr sprechen! Lebt wohl! Schon bedeckt das Leichentuch meinen Körper. Der nahende Tod nimmt mir Stimme, Leben, Seele, ich kann nicht antworten, dich nicht erkennen, dir nicht gehorchen … Hier kommt der fürchterliche Schlag … Die unausweichliche Prüfung … Alberto! …
CURCIO
Mein Gott! Ihn, den ich im Leben hasste, als Toten zu beweinen!
EUSEBIO
Komm, Alberto!
CURCIO
Oh Kampf ohne Gerechtigkeit!
EUSEBIO
Alberto … Alberto …
(Er stirbt.)
CURCIO
Unter diesem letzten Schlag hat er die Seele ausgehaucht. Ah! Mein weißes Haar soll von diesem Schmerze zeugen!
( BLAS kommt dazu.)
BLAS
Deine Klagen sind vergeblich. Und dein Mut hat bisher allen Schicksalsschlägen widerstanden.
CURCIO
Weil das Schicksal noch nie so grausam zu mir war. Ah! Mein Schmerz könnte dies Gebirge mit seinen Tränen zum Brennen bringen: Eine feurige Lava fließt aus meinen Augen. Oh Himmel! Oh unerträgliches Leid!
( OCTAVIO kommt dazu.)
OCTAVIO
Heute,
Weitere Kostenlose Bücher