Sämtliche Werke
einen siebzigjährigen Schulmeister, der seine einzige Kuh verloren, usw. Im längern Gespräche mit dem Vater jenes Wohltäters der Menschheit gestand der Alte ganz naiv, daß sein Herr Sohn freilich nicht soviel für ihn tue, wie er wohl vermöchte, und daß er ihn manchmal sogar ein klein bißchen darben lasse. Ich möchte dem Berühmten anraten, auch einmal für die baufälligen Hosen seines alten Vaters ein Konzert zu geben.
Wenn man diese misère angesehen, kann man wahrlich den schwedischen Studenten nicht mehr grollen, die sich etwas allzu stark gegen den Unfug der Virtuosenvergötterung ausgesprochen und dem berühmten Ole Bull bei seiner Ankunft in Upsala die bekannte Ovation bereiteten. Der Gefeierte glaubte schon, man würde ihm die Pferde ausspannen, machte sich schon gefaßt auf Fackelzug und Blumenkränze, als er eine ganz unerwartete Tracht Ehrenprügel bekam, eine wahrhaft nordische Surprise.
Die Matadoren der diesjährigen Saison waren die Herren Sivori und Dreyschock. Ersterer ist ein Geiger, und schon als solchen stelle ich ihn über letztern, den furchtbaren Klavierschläger. Bei den Violinisten ist überhaupt die Virtuosität nicht ganz und gar Resultat mechanischer Fingerfertigkeit und bloßer Technik, wie bei den Pianisten. Die Violine ist ein Instrument, welches fast menschliche Launen hat und mit der Stimmung des Spielers sozusagen in einem sympathetischen Rapport steht: das geringste Mißbehagen, die leiseste Gemütserschütterung, ein Gefühlshauch findet hier einen unmittelbaren Widerhall, und das kommt wohl daher, weil die Violine, so ganz nahe an unsre Brust gedrückt, auch unser Herzklopfen vernimmt. Dies ist jedoch nur bei Künstlern der Fall, die wirklich ein Herz in der Brust tragen, welches klopft, die überhaupt eine Seele haben. Je nüchterner und herzloser der Violinspieler, desto gleichförmiger wird immer seine Exekution sein, und er kann auf den Gehorsam seiner Fiedel rechnen, zu jeder Stunde, an jedem Orte. Aber diese gepriesene Sicherheit ist doch nur das Ergebnis einer geistigen Beschränktheit, und eben die größten Meister waren es, deren Spiel nicht selten abhängig gewesen von äußern und innern Einflüssen. Ich habe niemand besser, aber auch zuzeiten niemand schlechter spielen gehört als Paganini, und dasselbe kann ich von Ernst rühmen. Dieser letztere, Ernst, vielleicht der größte Violinspieler unsrer Tage, gleicht dem Paganini auch in seinen Gebrechen, wie in seiner Genialität. Ernsts Abwesenheit ward hier diesen Winter sehr bedauert. Signor Sivori war ein sehr matter Ersatz, doch wir haben ihn mit großem Vergnügen gehört. Da er in Genua geboren ist und vielleicht als Kind in den engen Straßen seiner Vaterstadt, wo man sich nicht ausweichen kann, dem Paganini zuweilen begegnete, hat man ihn hier für einen Schüler desselben proklamiert. Nein, Paganini hatte nie einen Schüler, konnte keinen haben, denn das Beste, was er wußte, das, was das Höchste in der Kunst ist, das läßt sich weder lehren noch lernen.
Was ist in der Kunst das Höchste? Das, was auch in allen andern Manifestationen des Lebens das Höchste ist: die selbstbewußte Freiheit des Geistes. Nicht bloß ein Musikstück, das in der Fülle jenes Selbstbewußtseins komponiert worden, sondern auch der bloße Vortrag desselben kann als das künstlerisch Höchste betrachtet werden, wenn uns daraus jener wundersame Unendlichkeitshauch anweht, der unmittelbar bekundet, daß der Exekutant mit dem Komponisten auf derselben freien Geisteshöhe steht, daß er ebenfalls ein Freier ist. Ja, dieses Selbstbewußtsein der Freiheit in der Kunst offenbart sich ganz besonders durch die Behandlung, durch die Form, in keinem Falle durch den Stoff, und wir können im Gegenteil behaupten, daß die Künstler, welche die Freiheit selbst und die Befreiung zu ihrem Stoffe gewählt, gewöhnlich von beschränktem, gefesseltem Geiste, wirklich Unfreie sind. Diese Bemerkung bewährt sich heutigentages ganz besonders in der deutschen Dichtkunst, wo wir mit Schrecken sehen, daß die zügellos trotzigsten Freiheitsänger, beim Licht betrachtet, meist nur bornierte Naturen sind, Philister, deren Zopf unter der roten Mütze hervorlauscht, Eintagsfliegen, von denen Goethe sagen würde:
Matte Fliegen! Wie sie rasen!
Wie sie sumsend überkeck
Ihren kleinen Fliegendreck
Träufeln auf Tyrannennasen!
Die wahrhaft großen Dichter haben immer die großen Interessen ihrer Zeit anders aufgefaßt als in gereimten
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