Sämtliche Werke
lebende mauvaise queue von Richardson stimmte ein, und ganz Großbritannien feierte in Jenny Lind das singende Magdtum, die gesungene Jungferschaft. Wir wollen es gestehen, dieses ist der Schlüssel der unbegreiflichen, rätselhaft großen Begeisterung, die Jenny in England gefunden und, unter uns gesagt, auch gut auszubeuten weiß. Sie singe nur, hieß es, um das weltliche Singen recht bald wieder aufgeben zu können und, versehen mit der nötigen Aussteuersumme, einen jungen protestantischen Geistlichen, den Pastör Swenske, zu heiraten, der unterdessen ihrer harre daheim in seinem idyllischen Pfarrhaus hinter Upsala, links um die Ecke. Seitdem freilich will verlauten, als ob der junge Pastör Swenske nur ein Mythos und der wirkliche Verlobte der hohen Jungfrau ein alter abgestandener Komödiant der Stockholmer Bühne sei – aber das ist gewiß Verleumdung. Der Keuschheitssinn dieser Primadonna immaculata offenbart sich am schönsten in ihrem Abscheu vor Paris, dem modernen Sodom, den sie bei jeder Gelegenheit ausspricht, zur höchsten Erbauung aller Dames patronesses der Sittlichkeit jenseits des Kanals. Jenny hat aufs bestimmteste gelobt, nie auf den Lasterbrettern der Rue Lepelletier ihre singende Jungferschaft dem französischen Publiko preiszugeben; sie hat alle Anträge, welche ihr Herr Léon Pillet durch seine Kunstruffiani machen ließ, streng abgelehnt. Diese rauhe Tugend macht mich stutzen – wurde der alte Paulet sagen. Ist etwa die Volkssage gegründet, daß die heutige Nachtigall in frühern Jahren schon einmal in Paris gewesen und im hiesigen sündhaften Conservatoire Musikunterricht genossen habe, wie andre Singvögel, welche seitdem sehr lockere Zeisige geworden sind? Oder fürchtet Jenny jene frivole Pariser Kritik, die bei einer Sängerin nicht die Sitten, sondern nur die Stimme kritisiert und Mangel an Schule für das größte Laster hält? Dem sei, wie ihm wolle, unsre Jenny kommt nicht hierher und wird die Franzosen nicht aus ihrem Sündenpfuhl heraussingen. Sie bleiben verfallen der ewigen Verdammnis.
Hier in der Pariser musikalischen Welt ist alles beim alten; in der Académie royale de musique ist noch immer grauer, feuchtkalter Winter, während draußen Maisonne und Veilchenduft. Im Vestibül steht noch immer wehmütig trauernd die Bildsäule des göttlichen Rossini; er schweigt. Es macht Herrn Léon Pillet Ehre, daß er diesem wahren Genius schon bei Lebzeiten eine Statue gesetzt. Nichts ist possierlicher, als die Grimasse zu sehen, womit Scheelsucht und Neid sie betrachten. Wenn Signor Spontini dort vorbeigeht, stößt er sich jedesmal an diesem Steine. Da ist unser großer Maestro Meyerbeer viel klüger, und wenn er des Abends in die Oper ging, wußte er jenem Marmor des Anstoßes immer vorsichtig auszuweichen, er suchte sogar den Anblick desselben zu vermeiden; in derselben Weise pflegen die Juden zu Rom, selbst auf ihren eiligsten Geschäftsgängen, immer einen großen Umweg zu machen, um nicht jenem fatalen Triumphbogen des Titus vorbeizukommen, der zum Gedächtnis des Untergangs von Jerusalem errichtet worden. Über Donizettis Zustand werden die Berichte täglich trauriger. Während seine Melodien freudegaukelnd die Welt erheitern, während man ihn überall singt und trillert, sitzt er selbst, ein entsetzliches Bild des Blödsinns, in einem Krankenhause bei Paris. Nur für seine Toilette hatte er vor einiger Zeit noch ein kindisches Bewußtsein bewahrt, und man mußte ihn täglich sorgfältig anziehen, in vollständiger Gala, der Frack geschmückt mit allen seinen Orden; so saß er bewegungslos, den Hut in der Hand, vom frühesten Morgen bis zum späten Abend. Aber das hat auch aufgehört, er erkennt niemand mehr; das ist Menschenschicksal.
»Die deutsche Literatur«
Erstdruck 1828.
Von Wolfgang Menzel
2 Teile.
Stuttgart, bei Gebrüder Franckh. 1828
»Wisse, daß jedes Werk, das da wert war zu erscheinen, sogleich bei seiner Erscheinung gar keinen Richter finden kann; es soll sich erst sein Publikum erziehen und einen Richterstuhl für sich bilden. – – Spinoza hat über ein Jahrhundert gelegen, ehe ein treffendes Wort über ihn gesagt wurde; über Leibniz ist vielleicht das erste treffende Wort noch zu erwarten, über Kant ganz gewiß. Findet ein Buch sogleich bei seiner Erscheinung seinen kompetenten Richter, so ist dies der treffende Beweis, daß dieses Buch ebensowohl auch ungeschrieben hätte bleiben können.«
Diese Worte sind von Johann Gottlieb Fichte, und wir
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