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Sämtliche Werke

Titel: Sämtliche Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Heine
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Physiognomie. Hier, in »Romeo und Julie«, sind wir über die Alpen gestiegen und befinden uns plötzlich in dem schönen Garten, welcher Italien heißt…
    Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
    Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn? –
    Es ist das sonnige Verona, welches Shakespeare zum Schauplatze gewählt hat für die Großtaten der Liebe, die er in »Romeo und Julie« verherrlichen wollte. Ja, nicht das benannte Menschenpaar, sondern die Liebe selbst ist der Held in diesem Drama. Wir sehen hier die Liebe jugendlich übermütig auftreten, allen feindlichen Verhältnissen Trotz bietend und alles besiegend… Denn sie fürchtet sich nicht, in dem großen Kampfe zu dem schrecklichsten, aber sichersten Bundesgenossen, dem Tode, ihre Zuflucht zu nehmen. Liebe im Bündnisse mit dem Tode ist unüberwindlich. Liebe! Sie ist die höchste und siegreichste aller Leidenschaften. Ihre weltbezwingende Stärke besteht aber in ihrer schrankenlosen Großmut, in ihrer fast übersinnlichen Uneigennützigkeit, in ihrer aufopferungssüchtigen Lebensverachtung. Für sie gibt es kein Gestern, und sie denkt an kein Morgen… Sie begehrt nur des heutigen Tages, aber diesen verlangt sie ganz, unverkürzt, unverkümmert… Sie will nichts davon aufsparen für die Zukunft und verschmäht die aufgewärmten Reste der Vergangenheit… »Vor mir Nacht, hinter mir Nacht«… Sie ist eine wandelnde Flamme zwischen zwei Finsternissen… Woher entsteht sie?… Aus unbegreiflich winzigen Fünkchen!… Wie endet sie?… Sie erlöscht spurlos, ebenso unbegreiflich… Je wilder sie brennt, desto früher erlöscht sie… Aber das hindert sie nicht, sich ihren lodernden Trieben ganz hinzugeben, als dauerte ewig dieses Feuer…
    Ach, wenn man zum zweitenmal im Leben von der großen Glut erfaßt wird, so fehlt leider dieser Glaube an ihrer Unsterblichkeit, und die schmerzlichste Erinnerung sagt uns, daß sie sich am Ende selber aufzehrt… Daher die Verschiedenheit der Melancholie bei der ersten Liebe und bei der zweiten… Bei der ersten denken wir, daß unsere Leidenschaft nur mit tragischem Tode enden müsse, und in der Tat, wenn nicht anders die entgegendrohenden Schwierigkeiten zu überwinden sind, entschließen wir uns leicht, mit der Geliebten ins Grab zu steigen… Hingegen bei der zweiten Liebe liegt uns der Gedanke im Sinne, daß unsere wildesten und herrlichsten Gefühle sich mit der Zeit in eine zahme Lauheit verwandeln, daß wir die Augen, die Lippen, die Hüften, die uns jetzt so schauerlich begeistern, einst mit Gleichgültigkeit betrachten werden… Ach! dieser Gedanke ist melancholischer als jede Todesahnung!… Das ist ein trostloses Gefühl, wenn wir im heißesten Rausche an künftige Nüchternheit und Kühle denken und aus Erfahrung wissen, daß die hochpoetischen heroischen Leidenschaften ein so kläglich prosaisches Ende nehmen!…
    Diese hochpoetischen heroischen Leidenschaften! Wie die Theaterprinzessinnen gebärden sie sich und sind hochrot geschminkt, prachtvoll kostümiert, mit funkelndem Geschmeide beladen und wandeln stolz einher und deklamieren in gemessenen Jamben… Wenn aber der Vorhang fällt, zieht die arme Prinzessin ihre Werkeltagskleider wieder an, wischt sich die Schminke von den Wangen, sie muß den Schmuck dem Garderobemeister überliefern, und schlotternd hängt sie sich an den Arm des ersten besten Stadtgerichtsreferendarii, spricht schlechtes Berliner Deutsch, steigt mit ihm in eine Mansarde und gähnt und legt sich schnarchend aufs Ohr und hört nicht mehr die süßen Beteurungen: »Sie spielten jettlich, auf Ehre«…
    Ich wage es nicht, Shakespeare im mindesten zu tadeln, und nur meine Verwunderung möchte ich darüber aussprechen, daß er den Romeo erst eine Leidenschaft für Rosalinde empfinden läßt, ehe er ihn Julien zuführt. Trotzdem, daß er sich der zweiten Liebe ganz hingibt, nistet doch in seiner Seele eine gewisse Skepsis, die sich in ironischen Redensarten kundgibt und nicht selten an Hamlet erinnert. Oder ist die zweite Liebe bei dem Manne die stärkere, eben weil sie alsdann mit klarem Selbstbewußtsein gepaart ist? Bei dem Weibe gibt es keine zweite Liebe, seine Natur ist zu zart, als daß sie zweimal das furchtbarste Erdbeben des Gemütes überstehen könnte. Betrachtet Julie. Wäre sie imstande, zum zweiten Male die überschwenglichen Seligkeiten und Schrecknisse zu ertragen, zum zweiten Male, aller Angst Trotz bietend, den schauderhaften Kelch zu leeren? Ich glaube, sie hat genug am

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