Saemtliche Werke von Jean Paul
Perpendikels der Turmuhr, und mir war, als hört’ ich, wie die Zeit mit schweren Füßen über die Welt schritt und Gräber austrat als Fußstapfen…
Ich setzte mich auf eine Altarstufe, um mich lag das Mondlicht mit trabenden eilenden Wolkenschatten; mein Geist stand hoch: ich redete das Ich an, das ich noch war: ›Was bist du? was sitzt hier und erinnert sich und hat Qual? – Du, ich, etwas – wo ist denn das hin, das gefärbte Gewölk, das seit dreißig Jahren an diesem Ich vorüberzog und das ich Kindheit, Jugend, Leben hieß? – Mein Ich zog durch diesen bemalten Nebel hindurch – ich konnt’ ihn aber nicht erfassen – weit von mir schien er etwas Festes, an mir versickernde Dufttropfen oder sogenannte Augenblicke – Leben heißet also von einem Augenblick (diesem Dunstkügelchen der Zeit) in den andere tropfen…. Wenn ich nun wäre tot geblieben: so wär’ also das, was ich jetzo bin, der Zweck gewesen, weswegen ich für diese lichtervolle Erde und sie für mich gebauet war? – Das wäre das Ende der Szenen? – und über dem Ende hinaus? – Freude ist vielleicht dort – hier ist keine, weil eine vergangne keine ist , und unsre Augenblicke verdünnen jede gegenwärtige in tausend vergangne – Tugend ist eher hier; sie ist über die Zeit – Unter mir schläft alles; aber ich werd’ es auch tun, und wenn ich mir noch dreißig Jahre weismache, daß ich lebe, dann legen sie mich doch wieder hieher – die heutige Nacht kommt wieder – ich bleibe aber in meinem Sarg: und dann?… Wenn ich nun drei Augenblicke hätte, einen zur Geburt, einen zum Leben, einen zum Sterben: zu was hätt’ ich sie denn? würd’ ich sagen – Alles aber, was zwischen der Zukunft und Vergangenheit steht, ist ein Augenblick – wir haben alle nur drei.‹… Großes Urwesen – fing ich an und wollte beten – – du hast die Ewigkeit,… aber unter dem Gedanken an den, der nichts als Gegenwart ist, erhält sich kein menschlicher Geist aufrecht, sondern beugt sich an seine Erde wieder, – ›O ihr abgeschiedenen Lieben,‹ dacht’ ich, ›ihr wäret mir nicht zu groß, erscheinet mir, hebt das Gefühl der Nichtigkeit von meinem Herzen ab und zeigt mir die ewige Brust, die ich lieben, die mich wärmen kann.‹ Von ungefähr sah ich meinen armen Hund, der mich anschauete; und dieser rührte mich mit seinem noch kürzern, noch dumpfern Leben so, daß ich bis zu Tränen weich wurde und mich nach etwas sehnte, womit ich sie vermehrte und stillte.
Das war die Orgel über mir. Ich ging zu ihr wie zu einer löschenden Quelle hinauf. Und als ich mit ihren großen Tönen die nächtliche Kirche und die tauben Toten erschütterte und als der alte Staub um mich flog, der auf ihren stummen Lippen bisher gelegen war: so zogen alle vergängliche Menschen, die ich geliebt hatte, nebst ihren vergänglichen Szenen vorüber, du kamest und Mailand und das stille Land; ich erzählte ihnen mit Orgeltönen, was zu einer bloßen Erzählung geworden war, ich liebte sie alle im Fluge des Lebens noch einmal und wollte vor Liebe an ihnen sterben und in ihre Hand meine Seele drücken – aber nur Holztasten waren unter meiner drückenden Hand. – Ich schlug immer wenigere Töne an, die um mich wie ein ziehender Strudel gingen – endlich legt’ ich das Choralbuch auf einen tiefen Ton und zog die Bälge in einem fort, um nicht den stummen Zwischenraum zwischen den Tönen auszustehen – ein summender Ton strömte fort, wie wenn er hinter den Flügeln der Zeit nachgingen er trug alle meine Erinnerungen und Hoffnungen und in seinen Wellen schwamm mein schlagendes Herz…. Von jeher machte ein fortbebender Ton mich traurig.
Ich verließ meine Auferstehungstätte und sah nach der weißen Pyramide des Eremitenberges, wo nichts auferstand und wo das Leben fester schlief; die Pyramide stand in Mondschimmer getaucht, und mit mir wandelte ein langer Wolkenschatten. Blätter und Bäume krümmte der Herbst; über die stachlichten Wiesenstoppeln wiegte sich die Blume nicht mehr, die im Maule des Viehs verging; die Schnecke sargte sich in ihr Haus und Bett mit Geifer ein; und als am Morgen sich die Erde mit vollgebluteten fleckigen Wolken gegen die matte Sonne drehte: so fühlt’ ich, daß ich meine vorige frohe Erde nicht mehr hatte, sondern daß ich sie auf immer in der Gruft gelassen, und die Menschen, die ich wiederfand, schienen mir Leichname, die der Tod hergeliehen und die das Leben aufrichtet und schiebt, um mit diesen Figuren zu agieren in
Weitere Kostenlose Bücher