Saemtliche Werke von Jean Paul
einheimisch; noch eh’ das Essen abgewaschen und abgeblattet und fertig war, hatt’ ers heraus oder vielmehr hinein, daß der sanfte Greis – Lind mit Namen – ein Zeidler sei. Letztes glaub’ ich; denn sonst wär’ er nicht so sanft, wie denn in den meisten Fällen die tierische Gesellschaft weniger verdirbt als menschliche: daher Plato die Langischen Kolloquia mit den Tieren als das Beste aus Saturns goldner Regierung angibt. Es ist nicht einerlei, ob man ein Hunde-, ein Löwen- oder ein Bienenwärter ist; denn unser Tiergarten im Unterleib – nach der platonischen Allegorie – bellt und blökt dem Unisono des äußern nach. – Als Viktor vollends mit dem Alten um das Haus und um die Bienenkörbe ging: so kam er wieder ins Tafelzimmer mit dem Gesichte eines Menschen, der in der Kussewitzer Kirche schon einen Stuhl und im Kirchenbuch eine Blattseite behauptete; wußt’ er nicht schon, daß der Bienenvater drei Pfarrer und fünf Amtmänner in Kussewitz zu Grabe begleitet – daß er die erste Hochzeit mit seiner Mutter (so hieß er die Frau) in dem Alter gemacht, in das sonst die Silberhochzeit fällt – daß sein Kopf noch das Gedächtnis und die Haare habe – daß er unter den Sargdeckel schwarze Augenbraunen zu bringen gedenke – daß er, Lind, ganz und gar nicht, wie etwan der alte Gobel und selber der Vogt Stenz , in der Kirche der Augen wegen die Stellung neben dem Kirchenfenster zu nehmen brauche, sondern seinen Vers überall lesen könne, und daß er jährlich nach Maienthal in die Kirche einmal gehe und ein Kopfstück in den kirchlichen Billardsack stoße, weil der Kirchhof da alle seine Verwandten von väterlicher Seite bedecke?
O, diese Zufriedenheit mit den Abendwolken des Lebens erquickt den hypochondrischen Zuhörer und Zuschauer, dessen melancholischer Saitenbezug so leicht in eines alten Menschen Gegenwart gleich einem Todesanzeiger zu zittern anfängt; und ein feuriger Greis scheint uns ein unsterbliches, gegen die Todessense verhärtetes Wesen und ein in die zweite Welt wegweisender Arm! – Viktor besonders sah mit schweren Gedanken in einem alten Menschen eine organisierte Vergangenheit, gebückte verkörperte Jahre, den Gipsabdruck seiner eignen Mumie vor sich stehen. Jeder kindische, vergeßliche, versteinerte Alte erinnerte ihn an die Eisenhammermeister, die in ihrem Alter wie die Menschenseele eine krebsgängige Beförderung erdulden und wegen ihrer gewöhnlichen Erblindung wieder Aufgießer – dann Vorschmiede – dann Hüttenjungen werden. Der gute Newton, Linné, Swift wurden wieder Hüttenjungen der Gelehrsamkeit. Aber so sonderbar furchtsam ist der Mensch, daß er, der die Seele bei der größten vorteilhaften Abhängigkeit von den Organen doch noch für einen Selbstlauter ansieht – und mit Recht –, gleichwohl bei einer nachteiligen besorgt, sie sei bloß der Mitlauter des Körpers – und mit Unrecht – – –
Da ein Spaziergang um einen fremden Ort einem Reisenden die beste Naturalisationakte gibt – und da Viktor nirgends fähig war, ein Fremder zu sein: so ging er – ein wenig hinaus. In manchen Nächten wird es nicht Nacht. Er sah draußen – nicht weit von den Gartenstaketen des Seniors, nicht des adeligen, sondern des geistlichen – ein sehr schönes Mädchen sitzen, in ein lateinisches Pfingstprogramm vertieft und daraus mit gefalteten Händen betend. Einer vereinigten Schön- und Tollheit widerstand er nie; er grüßte sie und wollte sie ihr lateinisches Gebetbuch nicht aufrollen und einstecken lassen. Die gute Seele hatte, da sie ihr Gebetbuch und Paternoster verloren, aus dem Pfingstprogramm »de Chalifis literarum studiosis« ihre Andacht mit Leichtigkeit verrichtet, da sie weder Lateinisch noch Lesen konnte und das Händefalten für die Maurerische Fingersprache ansah, die man höhern Orts schon verstehen würde. Sie wickelte einen sechsten abgeschnittenen Finger aus einem Papier heraus und sagte, den hätte das Marienkloster zu Flachsenfingen, an dessen Mutter Gottes ihr Vater ihn zur Dankbarkeit habe henken wollen, nicht angenommen, weil er nicht von Silber sei. – Da Buffon den Fingern des Menschen die Deutlichkeit seiner Begriffe zuschreibt – so daß sich die Gedanken zugleich mit der Hand zergliedern –: so muß einer, der eine Sexte von Finger hat, um 1 / 5 oder 1 / 11 deutlicher denken; und bloß so einer könnte mit einem solchen Supranumerar-Schreibfinger mehr in den Wissenschaften tun als wir mit der ganzen Hand. –
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