Saemtliche Werke von Jean Paul
dieser Aufsätze schrieb Knebel an Herder: »Ich habe mich gestern Abend noch über den Artikel, der Ihre Ideen betrifft, etwas geärgert, ich kann es nicht leugnen. Er ist gewiß von so einem illustren Dummkopf, einem Professor, der die Weisheit nach Maß und Elle zuschneidet. Wie schade wäre es, wenn ein so gelehrter Esel Sie nur um einen Schritt in Ihrem Wege störte und Ihnen eine Stunde Zeit verdürbe. Freilich mag es der lichtscheuen Fledermaus wehe tun, wenn sie sich nicht wie der große Vogel des Tages erheben kann.« Diese »lichtscheue Fledermaus« war niemand anders als Kant.
In Kants Kritiken des Herderschen Hauptwerks kreuzten sich zwei Weltanschauungen, die ohne Ausgleich scharf gegeneinanderstehen. Der Erkenntnisdichter stieß hier auf den Erkenntnistheoretiker. Intuitives Welterfassen auf kritische Methode. In diesem Kampf konnte es keine Entscheidung geben, denn freilich als Wissenschaft war Kants Methode weit überlegen. Aber was Herder wollte, war ja gar nicht reine Wissenschaft. Er lehnte es ja gerade ab, mit Hilfe bloßer Erkenntnis die Welt einfangen zu wollen, und wie weit er von bloßer Wissenschaft entfernt war, zeigte in voller Klarheit die Aufreihung seiner »Gedanken« in der kantischen Darstellung. Das war nicht Herder mehr, was Kant in den »Ideen« als Herders Gedankengefüge erkennen wollte; das war eine metaphysische Begriffsspekulation, die Herder zu allererst abgelehnt haben würde.
Aber was der grimmige Knebel für die Afterweisheit eines »illustren Dummkopfs« hielt, das schlug in Wahrheit die erste Bresche in die Welt Herders, das »erledigte« ihn in der Tat für die kommenden Menschenalter. In Kant siegte die Wissenschaft, das heißt der spezialisierte Mensch, über den allumfassenden Menschen. Hamann wie Herder schickten eine »Metakritik« als Warnung hinterher. Die Erkenntnis aus der Einheit des Menschen herausisolieren zu wollen und auf ihr das Weltbild zu errichten, erschien ihnen als der verhängnisvolle Grundirrtum Kants und der Zeit.
Hatten sie recht? Die Beantwortung dieser Frage schließt das Urteil über die Entwicklung des deutschen Geistes und das Schicksal des deutschen Volkes seither ein. Wenn man in gesteigerter Tüchtigkeit und Differenzierung den Endzweck menschlicher Gemeinschaft erblickt, kann man sich bejahend zu dem Sieg der kritischen Methode stellen, wobei noch zu bemerken ist, daß es sich bei dieser Wertung um die Auswirkung Kants, nicht völlig um ihn selbst handelt. Aber als menschlicher Typus war er der Träger des fortgesetzten Rationalismus, des rein logisch orientierten Verstandesmenschen, der die Eigenschwere der Welt verflüchtigte, der die Frage nach dem Ding an sich als interesselos offen ließ. Durch den Kritizismus konnte nur eine Periode der strengen und exakten Wissenschaft und Technik eingeleitet werden. Nur wenige damals sahen, daß die Welt in der Verfolgung der kritischen Philosophie veröden und auseinanderbersten mußte. Zu diesen wenigen gehörten Hamann, Herder und als dritter Friedrich Jacobi. Aber diese wenigen wurden in den entscheidenden achtziger und neunziger Jahren beiseitegeschoben.
Letzten Endes war dieser Konflikt nur ein Kapitel in der tausendjährigen Geschichte des deutschen Volkes überhaupt. Ein Abschnitt von dem schmerzvollen Wege der germanischen Stämme zur Deutschwerdung. Wie einst den Frühstämmen römische Kirche und römisches Recht aufgezwungen worden war, – wie in der Aufklärung spätrömische Zivilisation Luthers Suchen nach einem deutschen Glauben überwunden hatte, so siegte auch diesmal römische Begrifflichkeit über deutsches Natur- und Allgefühl, römischer Staatsbegriff über deutsches Volksbewußtsein und deutsche Reichsidee. Das aber ist der unvergängliche Sinn jener Gestalten von Klopstock, Hamann bis zu Jean Paul, und über sie hinaus in ihrer Wirkung bis zu den Männern der Paulskirche: daß in ihnen die deutsche Sehnsucht nach der ihr eigentümlichen Form ihre Verwirklichung fand. Aus der Ganzheit eines umfassenden und jeder Spezialisierung spottenden Weltgefühls wurde hier aus der Tiefe deutscher Volkstümlichkeit heraus deutsches Leben gelebt, das, wenn es nach Völkerfrieden und Menschheitsversöhnung die Fahnen aussteckte, immer noch tausendfach deutscher war (auch im realpolitischen Sinne!) als alles, was als »staatserhaltend« und »streng national« seither auf den Plan trat und doch immer nur die Interessen der Territorialstaaten und ihrer Dynastien vertrat.
Nur eine
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