Saemtliche Werke von Jean Paul
Zeit, die an voraussetzungslose Wissenschaft und überzeitliche und übervolkhafte Erkenntnis glaubte, konnte an Erscheinungen wie Hamann und Herder vorübergehen. Im Lichte dieser Wissenschaft freilich mußte ihr Stern verlöschen, aber diese Wissenschaft raubte uns zugleich den Sinn für das, was sie waren, ohne uns einen Ersatz für die Weite und menschliche Tiefe ihrer Weltschau zu reichen. –
In Töpen trug Jean Paul diesen Konflikt der Weltanschauungen zur vollen Klarheit aus. Schon in der Leipziger Zeit hatte er das Urteil gefällt, daß die Zeit keine großen Menschen habe. »Wir haben große Geister gehabt, aber noch keine großen Menschen. Alle unsere Genies schwingen sich durch ihren Verstand über diese Erde weg… Allein eine Ausnahme ist da: Rousseau – Seine Fähigkeiten machen ihn zum großen Mann – sein Herz zum großen Menschen.« Hier ist zum erstenmal das Ideal eines geistigen Führers gekennzeichnet, wie Jean Paul ihn ersehnte. Nicht die höchste Steigerung intellektueller Begabung schwebte ihm vor, sondern der große Mensch, das heißt einer, der mit Denken, Fühlen, Wollen zugleich der Zeit dient, ohne auch in seinem Leben diese drei notwendigen Seelenfunktionen des Menschen voneinander zu trennen und isoliert auszubilden. In Töpen wurde er sich darüber klar, daß dieses sein Ideal nicht von Kant, sondern nur von Herder erfüllt wurde.
»Edler Mann, gegen den ich nicht den Mut habe, höflich zu sein«, schrieb er schon von Hof aus an Herder. Und bald darauf: »Mir tat es allzeit wohl, wenn ich die Sonne mit einem menschlichen Gesicht im Kalender gemalet sah. Diese Art von Menschsein milderte ihren Glanz und brachte sie den Menschen näher… Aber Sie haben ja ein Menschenangesicht! und vielleicht doch auch für mich.« Trotz mehrmaliger vergeblicher Versuche unternimmt er immer wieder das Wagnis, sich dem angebeteten Verfasser der »Ideen« zu nähern. Wie wenig sollte er sich getäuscht haben. Nur daß er dann schließlich in Herder nicht mehr den thronenden Sonnengott, sondern einen vom Schicksal übergangenen und verkannten Menschen antraf.
»O wie haben die Fürsten den Geist der deutschen Nation verkannt, unterdrückt, verschlemmt und vergeudet«^ schrieb Herder von Nürnberg an seine Karoline. Und rührte damit an eine Saite, die so mannigfach zur gleichen Zeit in Jean Paul anschlug. Das Fürstentum Baireuth war mehr als Jahrhunderte lang von seinen Fürsten ausgesogen worden und hatte fürstlichen Übermut in ganz besonderem Grade an sich erfahren. Die Erinnerung daran lag noch in aller Herzen. Nie wieder seit den römischen Cäsaren haben sich Menschen in dieser Weise mit allen ihren übelsten Instinkten ausleben können wie die deutschen Fürsten des Barock. Ihre Geschichte ist eine Geschichte der Laster und Verbrechen, und noch zu Jean Pauls Zeiten seufzte das Land unter der Schuldenlast, die zum Bau der Prunkschlösser und zur Befriedigung schamloser Lüste gehäuft war. Untertanen wurden zur Unterdrückung der amerikanischen Freiheit, wie in Hessen so auch von den Baireuther Markgrafen, um Geld verkauft. Bauern und Stadtbevölkerung lebten in dürftigster Armut. Der Stand der Theologen war ja nicht der einzige, der zeitlebens am Hungertuch zu nagen hatte. Bettler durchzogen in Scharen das Land. Und über dem Elend der Massen füllte pomphafter Prunk die zauberhaften Paläste, die aus Tränen errichtet waren. Hatte Jean Paul bis dahin in diesen Zuständen willkommenen Stoff zur Satire gesehen, obwohl ihm eigene Not den ganzen furchtbaren Ernst dieser Verhältnisse täglich vor Augen führte, so schlug doch jetzt erst die Flamme in sein Herz und entzündete dort brennende Sucht, zu helfen und zu bessern.
Es war ja auch nicht nur, daß einige Ländchen durch despotische und verschwenderische Regierungsweise ausgesogen wurden. Viel verhängnisvoller war die Rolle der kleinen Dynastien für das deutsche Schicksal gewesen. Sie zerrissen das deutsche Reich, sich zwischen Volk und Reichsgewalt schiebend und die Einheit des Volkes von innen her zerstückelnd. Der Ruf nach dem deutschen Kaiser, es war seit einem halben Jahrtausend der Ruf nach starker Reichsgewalt gewesen und immer gegen das Willkürregiment der Territorialstaaten erhoben. Das Volk in seiner Not, die Bauern bei ihren Aufständen: sie riefen alle nach dem Kaiser, niedergeknüppelt von den Herren, die sich deutscher Volkseinheit widersetzten, nicht nur Waffengewalt, auch alle Mittel geistiger Überredung und einer
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