Saemtliche Werke von Jean Paul
das Marmorherz über seinem längst bereiteten Grabe werden die Worte geschrieben, nach denen das rastlose Herz des gewaltigen Mannes seit langem sich sehnte: »Es ruht!«
Die aus dem Rahmen des Ganzen herausfallende Auflösung des Schlusses, die gewissermaßen vorwegnimmt, was wenige Jahre später als »romantische Ironie« von Friedrich Schlegel heiliggesprochen wurde, wird unbefriedigt lassen. Dieser willkürliche Schluß löst eigentlich den ganzen Roman als Dichtung auf. Die Abneigung des Dichters gegen den üblichen Romanschluß mit seiner glücklichen Auflösung aller Hindernisse tritt in dieser Travestierung hervor. Fast mit einem trivialen Witz wird eine Handlung beschlossen, die den Leser durch alle Höhen und Tiefen der Empfindungen riß. Aber zugleich ist dieser Schluß für Jean Paul ungeheuer charakteristisch. Er empfindet seine Dichtung nicht als aufgebauten und der Wirklichkeit eingeordneten Roman, der sich nun, den Gesetzen der Wirklichkeit entgegen, in allen Teilen zum Schlusse runden müßte. Wir haben hervorgehoben, wie seine Form nicht aus der Architektur, sondern aus einem musikalischen Gefühl heraus geboren ist. Musik hat kein Ende, so kann auch sein Roman kein Ende haben, kann nicht im hergebrachten Sinne »schließen«, in der wörtlichen und übertragenen Bedeutung verstanden. Und wenn er sich dennoch einer eingewurzelten Vorstellung nachgebend schließt, so will der Dichter wenigstens andeuten, daß diese Form seinen Intentionen nicht entspricht. Er travestiert sie. Freilich ist damit noch nichts gewonnen, sondern sogar der musikalische Charakter der ihm eigenen Form zerstört. Auch hierin weist der »Hesperus« über sich hinaus. Gerade an diesem unglücklichen Schluß erkennen wir, daß Jean Paul seine Form noch nicht ganz gefunden, daß er noch einmal, zum dritten Male, nach ihr suchen wird, ehe sie uns im »Titan« in Vollkommenheit begegnet.
Wir sind in unserer Darstellung der Linie der Begebenheiten gefolgt und mußten am Ende feststellen, daß diese Linien nicht zum beruhigenden Ende geführt werden. Aber das zeigt nur, daß die lineare Führung nicht das Wesentliche dieses Werkes ist. Wesentlich ist es in der Gruppierung der Massen, die wie Wolkengestalten oder wie Gebirge an uns vorüberziehen, und von dieser Einstellung aus ist die Komposition in der Tat etwas Ungeheures. Noch nie ward solcher Reichtum in einen verhältnismäßig engen Raum gepreßt. In der »Vorschule der Ästhetik« unterscheidet Jean Paul drei Klassen von Romanen, die italienische, deutsche und niederländische. Im »Hesperus« sind sie alle enthalten. Die niederländische in der ländlichen Idylle des Pfarrhauses, die deutsche in der Empfindsamkeit seiner Helden, die italienische in dem hohen Schwung der Darstellung, dem titanischen Streben der Hauptgestalten. Alle diese Elemente durchdringen hier einander. Man halte nur einmal die poetisch verklärte Welt von Maienthal, die festliche Todessehnsucht Emanuels gegen den Freiheitsrausch der drei Engländer in St. Lüne und die Totenrede Viktors vor seinem Bild. Wie dann in der Todesstunde des Inders diese Welten ineinanderwogen, der in die Luft gesprengte Pulverturm den Sterbenden niederschmettert wie das Gewitter einer höheren Welt. Wie diese Explosion zugleich ein Zeichen von dem eingekerkerten Flamin ist, der sich für die Freiheit opfern und vom Schafott herab das Volk zur Revolution aufrufen will: solches Vorbei- und Ineinandertaumeln von Stoffmassen war vor Jean Paul noch nie gewagt worden. Man hat immer den Eindruck, daß der Höhepunkt erreicht sei, und dennoch geht es gerade dann in schwindelnder Kurve aufwärts. Wenn man die Sicht zu verlieren fürchtet, gerade dann steigen von den Horizonten ganz neue Welten und Aussichten in den Gesichtskreis. Etwa die drei Pfingsttage in Maienthal sind lehrreich für Jean Pauls schöpferische Kraft. Mit dem Sichfinden der Liebenden in der verwachsenen Laube glaubt man den Höhepunkt der Tage von Maienthal erreicht zu haben. Aber sie haben noch gar nicht begonnen, haben überhaupt erst in der Laube während des Regenspaziergangs die erste Stufe erreicht, und noch eine Unendlichkeit geht es aufwärts bis zu dem Taumel des Kinderfestes, bis zu Viktors seligem Einschlafen im Freien, und noch immer steigend und steigend bis zu dem mitternächtigen Abschied der Liebenden auf Giulias Grab.
Der »Hesperus« ging nun allerdings wirklich noch weit über die »Unsichtbare Loge« hinaus. »Das ist etwas ganz Neues, das ist
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