Saemtliche Werke von Jean Paul
wie der Liebende die Geliebte empfindet. Wer eine Lenette charakterisieren kann, wie es Jean Paul tat, dem sollte man nicht Mangel an Sicherheit des Zeichenstiftes vorwerfen. In der Art, wie sich Lenette uns gibt, erscheint die mit scharfen Sinnen beobachtete Frau. Die Geliebte aber naht in dem unbestimmten Schimmer Nataliens wie eine duftumflossene Welt, und wie eine Welt senkt sich die Liebe Nataliens auf den gequälten Siebenkäs hernieder. Leibgeber rät, sich von Lenette scheiden zu lassen. Siebenkäs bebt vor diesem Gedanken zurück. So bleibt nichts anderes übrig, als daß Siebenkäs eine tödliche Krankheit fingiert, einen leeren Sarg statt seiner begraben läßt und selbst an Leibgebers Stelle die Inspektorstelle bei einem Grafen übernimmt, um Natalie zu heiraten. Widerstrebend geht Siebenkäs auf diesen Plan ein. Wohl spürt er das Zynische in dem scheinbaren Sterben, aber ihn verlangt allzu gewaltig nach wirklichem Tod und Wiedergeburt aus den Qualen der letzten Zeit, um nicht unwiderstehlich von dem Gedanken Leibgebers ergriffen zu werden. Mit dem Gedanken des Todes im Herzen, kehrt Siebenkäs in das Elend seiner Häuslichkeit zurück. Lenettens Eifersucht erleichtert ihm die Ausführung des Plans. Er weiß, daß sie nach seinem Scheintode mit Stiefel sich trösten wird. Alles Entsetzen wirklichen Sterbens umfängt ihn, wenn er sich Lenettens Zukunft an der Seite Stiefels ausmalt.
Die Sterbeszene ist von einer grausigen Tiefe. Alle Farben seelischer Qual vereinigen sich zu diesem Vorgang, der wie ein Scherz anhebt und mit allem Entsetzen wirklichen Sterbens sich abspielt. Gestalten wie aus dem »Inferno«, mit satirischem Stift gestrichelt und doch von der Unbarmherzigkeit von Höllenbewohnern, sammeln sich um das Totenlager. Der Doktor Oelhafen, der seinen Titel Obersanitätsrat nicht umsonst führt, sondern für Geld. Der Landschreiber Börstel, eine eingedorrte Schnecke mit scheuem, rundem, horchendem Knopfplattenangesicht voll Hunger, Angst und Aufmerksamkeit. Der Frühprediger Reuel, der dem Sterbenden ins Gesicht sagt: er sei ein rechter Teufelsbraten und eben gar. Siebenkäs wird von Qualen gefoltert. »Ich bin’s satt, satt, satt – ich mache nun keinen Spaß mehr – in zehn Minuten sag’ ich meine letzte Lüge und sterbe, und wollte Gott, es wäre keine!« Er befiehlt dem Freund, kein Licht nach seinem Tode neben ihn zu stellen. »Ich werde meine Augen nicht beherrschen können, und unter der Larve kann ich sie doch nicht weinen lassen, wie sie wollen.«
Während der Sarg in die Erde gesenkt wird, wandert Siebenkäs nach der Fantaisie, um sich zwischen Hof und Baireuth mit dem Freunde zu treffen. Noch einmal ersteht vor uns die Landschaft, die dem Dichter so viel gegeben. Es kommt das letzte Zusammentreffen der Freunde auf dem Bindlocher Berg und ihre Trennung bei Töpen. Leibgeber geht, um in der Ferne zu verschwinden. Siebenkäs aber tritt bei dem Grafen in Vaduz Leibgebers Stelle an. Noch einmal kehrt er nach Kuhschnappel zurück, aber von Lenette findet er nur einen Grabhügel. Sie ist bei der Geburt eines Kindes gestorben. Jetzt erst fühlt er sich frei. Natalie erscheint in Vaduz, das Herz noch voll von Trauer um den gestorbenen Geliebten. Anstatt Leibgebers findet sie den Totgeglaubten. Die Wiedersehensszene vereinigt die Liebenden auf immer. »Wir bleiben beisammen!« Firmian stammelte: »O Gott! o du Engel – im Leben und im Tode bleibst du bei mir.« –»Ewig, Firmian!« sagte leiser Natalie; und die Leiden unseres Freundes waren vorüber.
Man könnte den Roman analysieren, sogar von einer Schuld und Sühne des Helden sprechen. Etwa sagen, daß Siebenkäs erst wirklich befreit ist, seit er es über sich gewann, den Grafen in Vaduz von seinem Scheinsterben in Kenntnis zu setzen. Aber mit solcher Begrifflichkeit dringt man nicht in Jean Pauls Inneres. Seine Menschen leben nicht um Probleme und ihre Lösungen herum, sondern sie durchleben Komplexe, werden durch ganze Welten hindurchgetrieben, ehe sie auf der Ebene der Erfüllung anlangen. Geradeaus schreitet die Handlung vorwärts, durch Lebensschichten hindurch. Die letzte berührt sich nur musikalisch mit der ersten des Ausgangs durch die Ähnlichkeit der Motive und Menschen. An Dichte und Atmosphäre ist sie ganz anders, und andere Gesetze walten in ihr. Es ist das Suchen nach diesen Gesetzen eines befreiten höheren Lebens, das den Roman vorwärtstrieb. Noch einmal umfaßt Jean Paul seine Entwickelung vom verbissenen
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