Saemtliche Werke von Jean Paul
zurückdrängen mußte.
Noch immer war er an die eigentliche Arbeit des »Titan« nicht herangegangen. Erst wollte er Eindrücke sammeln und selbst die Lebensstufen erreichen, die er seinen Helden in diesem »Kardinalwerk« hinanzuführen beabsichtigte. Über den vielfachen Beziehungen seines Lebens, die so plötzlich von ihm Besitz ergriffen hatten, dürfen wir den unentwegt feststehenden Plan seines größten Romanes nicht ganz aus dem Auge verlieren. In seinen Erlebnissen wuchs das Werk immer unsichtbar weiter. Der Gang seines Lebens entspricht dem Gang des Romans. In gewissem Sinne war es der Plan der »Unsichtbaren Loge«, der hier wieder aufgenommen wurde. Auch damals sollte der Held über eine Periode sentimentaler Schwärmerei und romantischer Liebe zu den höchsten menschlichen Aufgaben hingeführt werden. Jean Paul hatte nur den ersten Teil vollendet, nur die Geschichte dieser ersten schwärmerischen Liebe gegeben, nicht mehr den notwendigen Untergang der Heldin und das Emporsteigen des Helden auf eine höhere Ebene, obwohl auch das wohl schon in dem Plan des Romans gelegen hatte. Jetzt erst, nach den Eindrücken in Weimar und der Freundschaft mit den Titanidennaturen Charlottens und Juliens, war es ihm möglich, diese nächste höhere Durchgangsstation näher zu bestimmen: Der Held mußte auch durch eine titanische Epoche hindurch, an titanischen Gestalten sich abklären. Der erste Teil des »Titans« konnte ungefähr dem Verlauf des »Hesperus« entsprechen. Dann aber mußten die Eindrücke der Weimarer Reise und der neuen Bekanntschaften bestimmend hervortreten, der Held seine Titanide finden. Aber auch die Verbindung mit ihr konnte nichts Endgültiges sein. Bei dem Standpunkt jenes angeführten Briefes von Charlotte von Kalb konnte Jean Paul nicht haltmachen. Auch die Titanide, die in frevelnder Überhebung die Gesetze der menschlichen und göttlichen Satzung übertritt, auch sie muß zugrunde gehen, und erst eine dritte Verbindung, dem ersten Ideal wieder verwandt (wie Liane und Idoine sich gleichen), dürfte als endgültig angesehen werden. Genau die gleichen Stufen, wie Jean Pauls eigenes Leben sie hintereinander zurücklegte. Zuerst die Verbindung mit den Höfer Freundinnen Renate, Amöne und Karoline. Sodann sein Verkehr mit den Titanengestalten wie Charlotte von Kalb und Julie von Krüdner. Darüber suchte er nach etwas Höherem: einer Verbindung, die in gewissem Sinne wieder an seine Höfer Verhältnisse anknüpfte aber, kräftiger und bedeutender als sie, auch über sie hinausragte. So arbeitete er sich durch die titanischen Frauengestalten, die seine Person in eigentümlich magischer Weise anzog, hindurch, um sich schließlich mit seiner Heirat in den bürgerlichen Kreisen endgültig festzusetzen.
Vor der Reise nach Weimar waren die Schläge dicht hintereinandergefallen. Nur wenige Jahre hatten die »Unsichtbare Loge« mit dem »Wuz«, hatten den »Hesperus«, den »Quintus Fixlein«, den »Siebenkäs« gereift. In den »Biographischen Belustigungen« hatte sich der reiche Strom zum erstenmal in Beiwerk vergeudet. Die »Geschichte der Vorrede« war nach Weimar ein verheißungsvoller Auftakt gewesen. Man hätte erwarten können, daß der »Titan« in einem oder spätestens zwei Jahren folgte und zu neuen großartigen Schöpfungen überleitete. Aber es war nicht der Fall. Ein großer Teil der produktiven Kraft wurde durch die geradezu beispiellose Korrespondenz aufgesogen, die ihre Fäden über ganz Deutschland und in die verschiedensten Schichten hinzog. Dazu kam die Bearbeitung des »Hesperus«, des »Quintus Fixlein«, von denen Neuauflagen nötig wurden. Jean Paul feilte und besserte mit aller Kraft an ihnen. Er mochte das Gefühl haben, daß, was im ersten Ansturm Deutschland erobert hatte, einer späteren Kritik nicht standhalten würde, und fühlte den vorhandenen Werken gegenüber die Verpflichtung, sie gegen alle Stürme der Zeit zu sichern. Man kann nicht leugnen, daß seine Verbesserungen durchgreifend und wirklich Verbesserungen waren. Aber es bedeutete doch bereits ein Rückwärtsschauen, daß er sich mit 33 Jahren die Zeit zu Arbeiten nahm, die bei andern großen Dichtern erst die Altersjahre erfüllen. Vielleicht glaubte Jean Paul, daß er mit dem »Titan« einen unübersteigbaren Gipfelpunkt erklimmen würde, über den es kein Hinaus mehr gab, und vielleicht wollte er dieses wichtige Werk so spät wie möglich in sein Leben hineintreiben. Jedenfalls ist es auffallend, wie
Weitere Kostenlose Bücher