Saemtliche Werke von Jean Paul
»befrachteten, gekrümmten Schulleute« und die Seligkeit entschwundener Jugend an, »wo die Wirklichkeit größer und lichter war als der gedrückte enge Wunsch in der Kinderbrust«.
Fast programmatisch steht diese kleine Dichtung in dem Durcheinander der Nachweimarer Zeit. Jean Paul wollte durchaus das, was in ihm durch den Verkehr mit den Titanen beiderlei Geschlechts aufgewühlt war, getrennt halten von seinem eigenen Lebensgebiet. »Erst im ›Titan‹ spielet meine biographische Truppe wieder auf dem kalten Montblanc der vornehmen Welt«, schrieb er an Charlotte. In Erkenntnis des untergeordneten Charakters der vorliegenden Idylle nannte er sie mit Absicht nicht »Biographie« wie seine Romane, sondern bezeichnete sie nur als »Appendix«. Gab die kleine Arbeit auch nicht einem seiner bekannten Verleger, sondern dem Leipziger Buchhändler Beygang, der ihn durch Vermittelung Oerthels um ein Buch gebeten hatte.
Obwohl sich Jean Paul darüber klar war, es hier nur mit einer Nebenarbeit zu tun zu haben, die hauptsächlich das Lesepublikum in Spannung auf seinen »Titan« erhalten sollte, ließ er doch sein volles Herz in die kleine Dichtung einströmen. »Großer Genius der Liebe!« spricht er angesichts des unbeholfenen jungen Paares, »ich achte dein heiliges Herz, in welcher toten oder lebendigen Sprache, mit welcher Zunge, mit der feurigen Engelszunge oder mit einer schweren es auch spreche; und ich will dich nie verkennen, du magst wohnen im engen Alpental oder in der Schottenhütte oder mitten im Glanze der Welt, und du magst den Menschen Frühlinge schenken oder hohe Irrtümer oder einen kleinen Wunsch, oder ihnen Alles, Alles nehmen!« Schon Ludwig Börne hob diese Stelle als einen vom Dichter sich selbst geleisteten Schwur heraus, dem er nie untreu geworden wäre. Meisterhaft ist auch die Schilderung komischer Situationen, die zu reizvollen Genrebildern geballt sind. Man braucht nur an jene Szene zu denken, als der Verführer Esenbeck während des langen Kirchenliedes bei Alithea im Pfarrhause ist und die Zeit, die ihm für das Zusammensein mit dem schönen, unschuldigen Kinde bleibt, nach den durch das Fenster herübertönenden Strophen des Kirchenliedes berechnet. Entzückend sind auch die zahlreichen selbstbiographischen Stellen, so wenn Ingenuin die Rezension seines Buches, das er als »heterodox« vor dem Vater verbergen muß, immer wieder unterbrochen zu Ende liest. Hier bringt Jean Paul die Rezension über seinen »Hesperus« in der Allgemeinen Literaturzeitung hinein, die für Goethe der Anlaß zu jenem dritten von uns mitgeteilten Xenion wurde. Für seine damaligen Leser außerordentlich interessant mußten auch seine »Zirkel- oder Hirtenbriefe« sein, in denen er in den damals tobenden Streit über die kritische Philosophie eingreift. Wie in der »Geschichte der Vorrede« verheißt er auch hier bereits »kritische Briefe über den Humor, den Witz, den Roman und die Satire«, ein Versprechen, das er später durch seine »Vorschule der Ästhetik« weit überholen sollte. Seine Theatereindrücke in Weimar, wo er zum erstenmal einer richtigen Aufführung beigewohnt hatte, führten zu dem Einschiebsel »Gravamina der deutschen Schauspielergesellschaften, die mörderischen Nachstellungen der deutschen Tragiker betreffend«, zu dem es in der »Supplik der Schikanederschen Truppe« in der Kreuzerkomödie bereits eine Vorstufe gab. In der satirischen Einkleidung verbirgt sich eine durchaus ernsthafte Abhandlung.
Schon dieser flüchtige Überblick zeigt, welche Fülle von Gedanken und Eindrücken in diese kleine Dichtung hineingearbeitet worden ist, und sie war auch keineswegs von seinem persönlichen Erleben losgelöst. Schon der Schlußausruf des Buches: »Freiheit, ferner Freiheit, endlich Freiheit!« gibt seine damalige Grundstimmung wieder, die von den unglücklichen Koalitionskriegen gegen das revolutionäre Frankreich bestimmt ist. Tiefer aber noch greift der Gegensatz zwischen dem armen Schloßfräulein und dem glücklichen Liebespaar in seine Vergangenheit. Gerade angesichts der günstigen Wendung, die sein Leben genommen hatte, kehrten seine Gedanken immer wieder zu den trüben Tagen des Elends zurück. Gerade damals schrieb er an Oerthel, alle die alten Qualen von neuem aufrührend: »Ich wollte Dir noch viel sagen, zum Beispiel, daß ich Hof und meiner Lage nichts zu verdanken hatte als Härte, daß ich hier die ersten zehn Jahre ganz allein und verachtet – nur meine Ottos ausgenommen,
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