Saemtliche Werke von Jean Paul
Sinne orthodoxe Haltung dem freigeistigen Heidentum Goethes gegenüberstände. Das mochte bei Gleim und seinen Freunden der Fall sein. Herder wie Jean Paul waren von jeder engen Orthodoxie weit entfernt. Aber ebensosehr waren sie sich des scharfen Schnittes bewußt, den das Christentum mit seinem ungeheueren Gefühlsreichtum zwischen die Antike und die neue nordische Zeit gelegt hatte. Jede Art von Materialismus mußten Herder wie Jean Paul ablehnen. Als sich einmal das Gerücht verbreitete, daß Herder Materialist geworden wäre, antwortete Jean Paul einer Freundin, die ihn darüber befragt hatte: »Herders Geist ist ein lebendiges Sternensystem, seine Wege sind Milchstraßen und sein Herz eine warme Sonne: wie könnte ein solcher Geist den Tempel der Schöpfung in eine Begräbniskapelle des Geistes und den erhabenen Isisschleier der Geisterwelt in einen Leichenschleier verwandeln? Der Materialismus ist das Blutgericht der Geisterwelt: er könnte eher alle Irrtümer haben als den tödlichsten.«
Weder zum aufgeklärten Materialismus noch zu einem Goetheschen Heidentum führte eine Brücke von Herder und Jean Paul. Die seelische Vertiefung durch ein fast zweitausendjähriges Christentum konnte er nicht in einem Fluge überspringen wollen. Er bejahte die Erschütterungen, die die Menschheit inzwischen erfahren hatte. »Es geht uns eben wunderbar damit«, schreibt ihm Karoline über seine Arbeiten. »Das ganze Gebäude ist mit lauter kleinen einzelnen Heiligenbildern erfüllt. Das Gemüt und der Geist verweilen dabei gerührt, gestärkt, belustigt, erhoben, wir möchten das Ganze erfassen und sind unwillig, daß wir unter den tausend Empfindungen nicht weiterkommen. Wenn Sie das Münster in Straßburg gesehen hätten, so würden Sie mich verstehen und mir dieses Gleichnis nicht mißdeuten. – Vielleicht ist der Geist jenes Baumeisters in Ihnen wiedergekommen, und weil wir der steinernen Bilder nicht so nötig haben als der geistigen, so baut er nun aus Materialien der jetzigen Zeit, was sie bedarf, im Geschmack der vorigen.« Gerade von Herders Seite konnte es am ersten erkannt und ausgesprochen werden: dieser gotische Charakter des Jean Paulschen Schaffens, der ihn von der gräzisierenden Richtung Goethes und Schillers immer weiter entfernen mußte. Gotisch, himmelan strebend, mit zitternder Seele nach Gott und der Unsterblichkeit langend und verlangend, war auch die »Geschichte meiner Vorrede«. Aber gerade dieser Grundakkord seines Schaffens sollte ihn nun mit der Person in Widerspruch bringen, die ihm damals am allernächsten stand: mit Charlotte von Kalb. Ihr hatte Jean Paul die der Vorrede angefügte Erzählung »Mondfinsternis« übersandt in der Erwartung, daß gerade diese kleine Dichtung als Quintessenz seines Wesens sie aufs innigste berühren würde. Die »Woldemarin«, wie Jean Paul sie nach Jacobis Roman zu bezeichnen pflegte, empörte sich gegen das Gebot der Keuschheit, das hier erhoben wird. Sie schwieg einige Monate lang, um im Oktober endlich ihren stürmischen Gefühlen Worte zu geben: »Das Ködern mit dem Verführen! Ach, ich bitte, verschonen Sie die armen Dinger und ängstigen Sie ihr Herz und ihr Gewissen nicht noch mehr! Die Natur ist schon genug gesteinigt. Ich ändere mich nie in meiner Denkart über diesen Gegenstand. Ich verstehe diese Tugend nicht und kann um ihretwillen keinen heiligsprechen. Die Religion hier auf Erden ist nichts anderes als die Erhaltung und Entwickelung der Kräfte und Anlagen, die unser Wesen erhalten hat. Keinen Zwang soll das Geschöpf dulden, aber auch keine ungerechte Resignation. Immer lasse der kühnen, kräftigen, reifen, ihrer Kraft sich bewußten und ihre Kraft brauchenden Menschheit ihren Willen; aber die Menschheit und unser Geschlecht ist elend und jämmerlich! Alle unsere Gesetze sind Folgen der elendesten Armseligkeit und Bedürfnisse, und selten der Klugheit. Liebe bedürfte keines Gesetzes. Die Natur will, daß wir Mütter werden sollen; – vielleicht nur, damit wir, wie einige meinen, Euer Geschlecht fortpflanzen! Dazu dürfen wir nicht warten, bis ein Seraph kommt – sonst ginge die Welt unter. Und was sind unsere stillen, armen, gottesfürchtigen Ehen? – Ich sage mit Goethe und mehr als Goethe: unter Millionen ist nicht Einer, der nicht in der Umarmung die Braut bestiehlt.«
Einen solchen elementaren Ausbruch einer titanischen Weibsnatur hatte Jean Paul nicht erwartet. Von dieser Seite glaubte er an unbedingte Zustimmung zu allem, was ihm
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