Saemtliche Werke von Jean Paul
einzige, was dem Volk die gebrochenen Schwingen wieder heilen konnte.
Von den Problemen gewissermaßen der Außenpolitik wendet sich Jean Paul jetzt zur Innenpolitik, und hier wird deutlich, daß er nichts so sehr im Auge hat als die Ertüchtigung des Volkes. Voraussetzung eines kraftvollen Staatswesens sei allerdings die Freiheit und die Liebe. »Wie in Frankreich ein willkürlicher Druck gleichsam die ganze Nation zum Feuern abdrückte und wie diese mit Blut, Tränen und Druckschwärze scharf eingeätzte Freiheitsbriefe nicht erlöschen, sondern wie sympathetische Tinte vor jeder Hitze wieder vortreten: so würde alles wiederkommen, wenn die Regierungen die Völker zum Hassen antrieben. Schnell zusammengepreßte Luft entzündet sich. Wie nach Plato im Gastmahl jeder ein Dichter wird, wenn er liebt, so kann er auch einer werden – und zwar eines Trauerspiels, wenn er haßt, und dann kommt Petrikettenfeiers Tag.« Er warnt also davor, frühzeitig den Haß der Völker anzublasen, um nicht einen Petrikettenfeierstag heraufzubeschwören. Erst soll das Volk in Freiheit zu sich selber finden. Ein erstes Erfordernis der Freiheit sei die Preßfreiheit, und hier erhebt er warnend seine Stimme: »Oder soll den Bürgern eines Staates erst ein Feind desselben die Zunge lösen?« Wieder wird hier sichtbar, wie Napoleon dem deutschen Volke zuerst fast als ein Befreier erschien gegen die Knechtschaft unter den eigenen Landesherren, und wir wollen nicht die Augen davor verschließen, daß diese Auffassung nicht unbegründet war.
Jetzt aber wird der Dichter zum Bußprediger seines Volkes. Ein Abschnitt ist dem »Luxus« gewidmet. Das Land ist verarmt, aber gerade jetzt sei die Verführung zum Luxus ungewöhnlich groß, schon durch die »jedem Kriege nachfolgenden Überbereicherungen Einzelner«. Wir erkennen in diesem Spiegel unsere eigene Zeit wieder. Die schlimmste Verführung biete der »halbe Luxus«, wie er in dem verarmten und ausgesogenen Lande auf der Lauer läge. Das Volk müsse sich ganz zur Einfachheit zwingen. »Das reißende Untier des Luxus kann kein einzelner, sondern nur eine Menge bezwingen.« »Entsagungsgesellschaften« müßten sich bilden. »Keine Mutter sage, daß sie ihr Kind länger liebt, als sie es an der Brust oder an der Lippe hat, wenn sie das arme Wesen in eine verarmte und verdorbene Zeit mit den Bedürfnissen der Unersättlichkeit hinausschickt.« Der nächste Abschnitt ist der Geschlechts-Enthaltsamkeit gewidmet. Nicht nur das Beispiel eines erschöpften Volkes wirft er an die Wand, sondern zugleich das Mittel, die Sittlichkeit zu steigern: »Es ist die heilige Darstellung der höheren Liebe, welche, wenn nicht den Mann, doch den Jüngling lange beschirmt.« Nach einem Ausfall auf den Egoismus, indem man deutlich ein Zielen nach Weimar hin zu verspüren meint, und nach einer Sammlung »Vermischter Gelegenheitssprüche«, die eine Fülle von treffenden, in die Tiefe gehenden Gedanken bergen, kehrt Jean Paul in dem letzten Abschnitt »Hoffnungen und Aussichten« noch einmal zu dem deutschen Problem zurück. »Jedes Volk vergeht wie ein faulender Schwamm, zerfließend, wenn es keinen Mut mehr hat,« ruft er den Deutschen zu; »ohne Hoffnung aber gibt es keinen.« Die Frage nach den Hoffnungen und Aussichten Deutschlands beantwortet er nun folgendermaßen: »Was heißt Aussichten Deutschlands oder Europens? die auf ein Jahr, oder auf ein Jahrhundert, oder ein Jahrtausend, oder auf die ganze Erdenzeit?« Man dürfe eben keine Zeit nennen. Nur Ideen geben eine Hoffnung. »Aber euch sollen Ideen statt der Jahre dienen, und Gott sei die Ewigkeit. Dann fürchtet, wenn ihr könnt.« Weit über den mechanischen Begriff des modernen Machtstaates spannt er seine Staatsidee, die allein über jede Furcht hinwegheben könne. »Wenn es eine bekannte Klage ist, daß die neuern Staaten mehr Staatskörper, die alten hingegen mehr Staatsseelen sind, welche mehr mit dem Geistigen bewegten und verknüpften durch Beredsamkeit, durch Sitten, durch Musik, nicht durch hölzerne Räderwerke des Formalismus: so fällt diese Klage auf keinen Staat gerechter und verstärkter als auf den deutschen… – unser politisches Verzichttun auf jedes Freigeistige und unsere Fluchtstrafen eines jeden Schritts aus dem Marschreglement oder der Schrittordnung der Kollegien-Schnecken – unser Exerzier- und Prügel und Alt-Jährigkeitswesen… alles dies, was dem deutschen Reichskörper so wenig Reichsseele, spirit public , esprit de corps
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