Säule Der Welten: Roman
behandelt zu werden, wie Diener und gewöhnliche Menschen miteinander umgingen - großartig und aufschlussreich. Niemand öffnete ihr die Tür; das musste sie selbst tun. Niemand meldete sie an, sie musste sich räuspern und den Mann am Empfang um Hilfe bitten. Und sie musste bezahlen , mit ihrem eigenen Geld!
»Den Inhalt von Schließfach sechs-vierundsechzig«, sagte sie und hielt ihm den Zettel hin, auf den sie sich den Code notiert hatte. Das Papier war nur für ihn gedacht, sie selbst hatte sich die Reihe aus Buchstaben und Zahlen schon vor Jahren eingeprägt. Ursprünglich hatte sie eigentlich nur lesen gelernt, um die Buchstaben entziffern zu können, die Onkel Albard ihrer Puppe auf die Stirn geschrieben hatte.
Der Hüter der Schließfächer knurrte nur: »Holen Sie sich das Zeug selbst. Wenn Sie die Kombination haben,
kommen Sie rein, so ist es Vorschrift.« Er zeigte auf eine Tür am Ende der Theke.
Sie wandte sich in diese Richtung, und er sagte: »Für dieses Fach ist eine Nachzahlung fällig. Sechshundert.« Er grinste wie ein Hai. »Wir wollten es schon ausräumen.«
Venera öffnete ihre Tasche und ließ ihn die Pistole sehen, während sie nach dem Geld kramte. Er nahm es ohne Kommentar und schickte sie mit einer Handbewegung durch die Tür.
Das schmuddelige Fach enthielt lediglich einen Aktenordner mit Wasserflecken. Venera blätterte ihn im Halbdunkel durch und kam zu der Ansicht, dass sie ihn auch nicht mehr brauchte. Die Dokumente stammten von der Abteilung für Erbforschung an der dreieinhalbtausend Kilometer entfernten Universität Candesce. Sie enthielten DNA-Analysen, die bewiesen, dass ihr Vater kein Abkömmling der königlichen Linie war.
Als sie das Blockhaus verließ, nahm sie die verfallenen Gebäude kaum wahr; vielleicht verlor sie deshalb die Orientierung. Doch mit einem Schlag wurde sie hellwach und erkannte, dass sie sich in einem schmalen abschüssigen Schacht zwischen fünf holzverkleideten Gebäuden befand und sich vom Palast entfernte, anstatt darauf zuzufliegen. Sie runzelte die Stirn, griff nach dem nächsten Tau, um anzuhalten, und wollte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.
»Lass das.« Eine ruhige Stimme von links oben. Venera schlug einen Salto, um sich nach dem Sprecher auszurichten. Im Halbdunkel zwischen Schindeln und Teerpappe sah sie einen Jungen - kaum älter als sie selbst - mit zerzaustem roten Haar und den langen
Gliedmaßen eines Menschen, der in zu geringer Schwerkraft aufgewachsen war. Er lächelte breit und sagte: »Böse Männer sind hinter dir her. Flieg weiter und biege an der nächsten Ecke scharf rechts ab, dann bist du in Sicherheit.«
Sie zögerte, und seine Miene verdüsterte sich. »Ich verarsch dich nicht. Verschwinde jetzt, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
Venera machte noch einen Überschlag, stellte die Füße auf das Tau und stieß sich ab - schachtabwärts. Als sie die Ecke erreichte, von der der Junge gesprochen hatte, hörte sie vom anderen Ende des Schachts her Stimmen - gerade nicht aus der Richtung, aus der die bösen Männer angeblich kamen.
Die Seitengasse mündete rasch in einen verkehrsreichen Luftraum. Hier gab es keine Nischen und Türen, aus denen sich jemand auf sie stürzen konnte. Venera fühlte sich vorerst sicher und spähte um die Ecke. Von links unten schwebten drei Männer langsam zu ihr empor.
»Ich glaube, diesmal hast du uns wirklich in die Irre geführt«, sagte der Mann an der Spitze. Er war Ende zwanzig, und seine Kleidung und sein Benehmen verrieten, dass er reich oder von Adel sein musste. Einer seiner Begleiter war ähnlich gekleidet, aber der Dritte sah aus wie ein Bürgerlicher. Viel mehr konnte sie im Zwielicht nicht erkennen. »Der Palast liegt ganz sicher nicht in dieser Richtung«, fuhr der Sprecher fort. »Ich bin um zwei Uhr dort verabredet. Und ich kann es mir nicht leisten, zu spät zu kommen.«
Zwei Uhr? Sie erinnerte sich, dass einer der Höflinge erwähnt hatte, ein Admiral eines Nachbarstaates würde
seinem Vater am frühen Nachmittag seine Aufwartung machen. Ob das der Mann war?
Plötzlich rief der zweite Mann: »Hoppla!« Er hatte sich gerade noch zur Seite geworfen, als der Dritte mit einem Mal ein Schwert in der Hand hatte. »Chaison, das ist eine Falle!«
Von rechts kamen vier Männer durch den Schacht geschossen. Sie wirkten wie harte Burschen, die Sorte von Gangstern, die Venera oft durch ihr Fernglas in den Straßen des Viertels beobachtet und von denen sie
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