Säule Der Welten: Roman
Mal aus dem Palast, beschaffte sich Material, um ihren Vater zu erpressen, tötete ihren ersten Menschen und lernte den Mann kennen, den sie heiraten sollte. Später sollte sie erzählen, alles sei »einfach so passiert«.
Hales Hauptstadt war aus sechs Habitaträdern zusammengesetzt - rotierenden Ringen von jeweils sechshundert Metern im Durchmesser - und von einer in ständiger Bewegung befindlichen Wolke aus schwerelosen
Gebäuden und kleineren Ringen umgeben. Das vorherrschende Geräusch in der Stadt war das Rattern der Düsentriebwerke, die mühsam verschiedene Ringe und große städtische Gebäude in Rotation hielten und vermieden, dass es zu Kollisionen kam. Die Luft war erfüllt von Kerosingeruch, der sich ebenso mit industriellen und biologischen Abgasen mischte wie das Rattern der Triebwerke mit Stimmen, Sirenen und Delfingeschnatter.
Venera hatte während ihrer Kindheit das städtische Treiben nur aus der Ferne beobachten können. Wenn sie zwischen den Habitaträdern unterwegs war, dann gewöhnlich in einem geschlossenen Taxi. Manchmal veranstaltete eines der Adelsgeschlechter einen Ball bei Schwerelosigkeit; dann legten sie und die anderen jungen Mädchen feenhafte Flügel an, die mit Fußpedalen bewegt wurden, und schwebten in kunstvollen Figuren durch die warme Abendluft. Aber diese kleinen Fluchten bewegten sich stets in klar gezogenen Grenzen, die nie überschritten wurden.
Sie war jetzt im heiratsfähigen Alter - und hatte vor kurzem begreifen müssen, dass in Hale »heiratsfähig« gleichbedeutend war mit »zum Abschuss freigegeben«. Venera hatte drei Schwestern, und sie hatte einmal drei Brüder gehabt. Jetzt waren es nur noch zwei, und die Mädchen in der Familie, die sich früher sehr nahegestanden hatten, begannen eifrig gegeneinander zu intrigieren. Bei den Jungen drehte sich alles um die Nachfolge; bei den Mädchen um Heirat.
Erst wenige Tage zuvor hatte sie bei einer Dinnerparty ein wunderbares Wort gehört: Druckmittel . Ein Druckmittel war genau das, was sie brauchte, hatte Venera
gedacht. Und dann hatte sie sich mit den alten Familientragödien und den Geheimnissen beschäftigt, die sie als kleines Mädchen so sehr gereizt hatten.
Heute trug sie die braune Bluse und die weiten Hosen einer Dienerin, und die Flügel auf ihrem Rücken waren nicht schmetterlingsorange oder rosarot gefiedert, sondern bestanden aus beigefarbenem Segeltuch. Das Haar hatte sie unter einem graubraunen Kopftuch verborgen. So schwebte sie barfuß durch den Luftraum der Stadt. In ihrer Gürteltasche hatte sie etwas Geld, eine Pistole und eine Puppe mit Porzellankopf. Sie wusste genau, wohin sie wollte.
Die schlechten Wohnviertel begannen erstaunlich nahe am Palast. Das mochte damit zusammenhängen, dass die königliche Familie ihren Abfall einfach vom Palastrad zu werfen pflegte, ohne sich um Flugbahnen oder Geschwindigkeiten zu kümmern. Allerdings trugen die besseren Kreise nicht allein die Schuld an dem Gestank, der Venera entgegenschlug, als sie sich ihrem Ziel näherte. Sie fühlte sich davon nicht abgestoßen; ganz im Gegenteil, der Geruch und die lauten, keifenden Stimmen ließen ihr Herz höher schlagen. Schon als sie noch ganz klein war, hatte sie stundenlang wie angewachsen vor einem Teleskop gesessen, um diese Bürger und dieses Viertel mit der Drehung des Palastes an sich vorbeiziehen zu sehen. Sie kannte die Gegend - sie war nur noch nie hier gewesen.
Was nun auf sie zukam, sah mehr oder weniger aus wie eine in der Zeit erstarrte Explosion. Sogar der Rauch (und der war reichlich vorhanden) stand still, beziehungsweise er bewegte sich nur so schnell wie die Luft, die sich langsam zwischen den Hunderten von
Würfeln, Kugeln und Trümmergebilden dahinwälzte, die hier die Rolle von Gebäuden spielten. Alles, was nicht verzurrt war, schwebte in der Luft und trieb allmählich davon, und das hieß, dass sich die Wolke mit Müll, Tierhaaren, Kugeln aus schmutzigem Wasser, Splittern und Stofffetzen immer weiter anreicherte. Wenn die Sommerflaute vorüber war und endlich ein steifer Wind aufkam, würde er die Hälfte des Viertels einfach mitnehmen wie Spreu. Im Moment war Venera von Unrat umwogt und musste viele Haken schlagen, um ihren Bestimmungsort, ein graues Blockhaus, zu erreichen.
Sie hatte nicht lange in dem Gebäude zu tun, aber jeder Schritt brannte sich in allen Einzelheiten in ihr Gedächtnis ein - denn hier wusste niemand, wer sie war. Sie fand es großartig, zur Abwechslung einmal so
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