Säule Der Welten: Roman
Skandal, und außerdem würde ihr Vater viel zu viele Fragen stellen. Wenn er auf die Papiere stieße, die sie eben abgeholt hatte, wäre sie so gut wie tot.
»Das geht nicht«, sagte sie, drehte sich und stieß sich mit aller Kraft von der Hausecke ab.
Er rief ihr nach, sie solle warten, aber Venera flog weiter und schaute erst zurück, als sie drei belebte Märkte durchquert und durch fünf schmale Gassen zwischen einsturzgefährdeten Häusern geschlüpft war. Dann kehrte sie auf Umwegen zum Palast zurück und zog sich im Wachraum um, während der Mann, den sie bestochen hatte, damit er sie hinaus- und wieder hereinließ, nervös draußen wartete.
Das nächste Mal sollte sie Chaison Fanning am übernächsten Abend über den Rand eines Weinglases hinweg sehen. Viel später erzählte er ihr, dass sein Erstaunen, als er sie erkannte, jeden Gedanken an den neuen Vertrag mit Hale ausgelöscht hatte, den er gerade feierte. Sein Gesichtsausdruck war jedenfalls unbezahlbar.
Venera lächelte aus anderen Gründen, denn sie hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, wer versucht hatte, diesen hübschen jungen Admiral ermorden zu lassen.
Und während sie mit Chaison Fanning tanzte, überlegte sie sich, mit welchen Worten sie ihren Vater zur Rede stellen wollte. Was sie im Gegenzug für ihr Schweigen über seine nicht-königliche Herkunft von ihm verlangen würde, wusste sie bereits.
Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben sah Venera Fanning eine Chance, sich abseits der Intrigen und Grausamkeiten des Hofes von Hale eine eigene Existenz aufzubauen.
4
Aus dem Dach der Nation Liris wuchs ein dickes Kabel. Venera betrachtete es, dann blickte sie auf die Donnerbüchsen in den Händen der Soldaten. Eine größere Donnerbüchse stand ganz in der Nähe auf einer Drehlafette unter einem kleinen Dach. Das musste das verdammte Gewehr sein, das sie mit seinen Schüssen jeden Morgen weckte.
Die Uraltwaffen sahen nicht so aus, als würden sie zielgenau schießen. Wahrscheinlich könnte sie einfach vom Dach springen und sich aus dem Staub machen … aber wo sollte sie hin? Womöglich wurde sie von irgendeinem Nachbarstaat aufgegriffen, der noch schlimmer war als die Leute hier.
Sie beschloss - zum zehnten Mal an diesem Tag -, sich in Geduld zu üben und abzuwarten. In Liris hatte offenbar niemand die Absicht, ihr in nächster Zeit zu schaden. Die beste Strategie war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, bis sich eine Gelegenheit zur Flucht böte.
»Nun passen Sie doch auf«, winselte Samson Odess. Der kleine Mann mit dem Fischgesicht war ihr gestern als ihr neuer »Chef« vorgestellt worden. Schon der Gedanke, ein Bürgerlicher könnte ihr Befehle erteilen, ohne ihnen mit einer unmittelbaren Bedrohung Nachdruck
zu verleihen, erschien Venera absurd und komisch zugleich. Sie hatte bisher alles getan, was man von ihr verlangte, aber Odess spürte offenbar, dass sie ihn nicht ernst nahm, und wurde im Lauf des Vormittags immer unsicherer.
»Das ist die Lebensader, die uns mit Klein-Spyre verbindet«, sagte er nun und schlug mit der Hand gegen das Kabel. Er stand auf einer kleinen Plattform, in deren Mitte sich ein Kasten mit großen Zahnrädern befand, die in das Kabel griffen. »Mit dieser Maschine können wir in die Stadt hinauffahren, und dort wird einmal wöchentlich der Große Markt abgehalten. Zu diesem Markt kommen die Besucher von überallher. Die Handelsdelegation hat die heilige Pflicht, im Namen von Liris möglichst vorteilhafte Geschäftsabschlüsse zu tätigen.« Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als sich die einzige Luke im Dach von Liris öffnete und der Rest der Delegation auftauchte. Vier schwer bewaffnete Männer trugen eine Eisenkiste, die wohl entkernte Kirschen enthalten musste. Sie wurden flankiert von zwei Männern und zwei Frauen. Letztere waren wie Venera verschleiert und trugen Prunkgewänder aus glänzendem Silber mit Intarsien aus rotem Email.
»Ist die Schwerkraft da oben die gleiche wie hier?«, fragte Venera. Bei einer vollen Standardeinheit könnten sie sich nämlich nicht bewegen. Odess schüttelte energisch den Kopf.
»Sie können schon von hier unten sehen, wie hoch die Rotationsgeschwindigkeit ist. Wir tauschen unsere schweren Roben gegen Stadtkleidung ein, sobald wir oben sind.«
»Warum ziehen wir uns nicht gleich hier um?«, fragte sie verwundert.
Odess glotzte sie fassungslos an. Genauso hatte er gestern dreingeschaut, als man sie bekanntgemacht hatte. Moss hatte Venera in Odess’ Büro
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