SÄURE
verläßt?«
»Von Anfang an.«
»Seit dem Attentat?«
»Ja, ja, es ist wirklich ganz einleuchtend, wenn man die Verknüpfung der Ereignisse bedenkt. Als Mr. Dickinson sie gleich nach der Hochzeit heimbrachte, befand sie sich mitten in chirurgischer Behandlung. Sie litt unter großen Schmerzen, hatte immer noch sehr große Angst - war traumatisiert von dem - von dem, was man ihr angetan hatte. Auf Professor Montecinos Anweisung hin verließ sie nie ihr Zimmer - sie mußte immer viele Stunden lang ganz still liegen. Das neue Fleisch mußte außerordentlich geschmeidig und sauber gehalten werden. Daher wurden besondere Luftfilter angebracht, um Partikel zurückzuhalten, die ihr schaden könnten. Krankenschwestern umsorgten sie rund um die Uhr mit Behandlungen und Injektionen, Lotionen und Bädern, die sie vor Schmerzen aufschreien ließen. Sie hätte nicht fortgehen können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Dann kam die Schwangerschaft hinzu. Es bedeutete für sie vollkommene Bettruhe, unterbrochen nur von ständigen Verbandswechseln. Als sie im vierten Monat war… verstarb Mr. Dickinson und sie… Es war einfach ein sicherer Ort für sie. Sie konnte nie weg, das ist klar. Also ist es irgendwie völlig logisch, daß sie so ist? Sie zieht es vor, in Sicherheit zu bleiben. Das sehen Sie doch ein, Doktor?«
»Ja, das tue ich. Aber jetzt kommt es darauf an, Sicherheit für Melissa zu schaffen.«
»Ja«, sagte er, »natürlich.« Er wich meinem Blick aus.
Ich rief den Kellner und bestellte noch einen Espresso. Als dieser zusammen mit frischem, heißem Wasser für Dutchy kam, legte er die Hände um seine Teetasse, aber trank nicht. Als ich an meinem Kaffee nippte, sagte er: »Verzeihen Sie mir meine Vermessenheit, Doktor, aber wie ist Ihrer fachlichen Meinung nach die Prognose? Für Melissa?«
»Die Kooperation der Familie vorausgesetzt, würde ich sagen, gut. Sie ist motiviert und intelligent und verfügt für ihr Alter über sehr viel Einsicht. Aber es wird seine Zeit brauchen.«
»Ja, natürlich. Ist das nicht bei allen wertvollen Dingen so?«
Plötzlich beugte er sich vor, seine Hände flatterten, seine Finger zuckten - eine seltsame Erregung für einen so gestandenen Mann. Er roch nach Bayrum und Garnelen. Einen Augenblick lang dachte ich, er würde meine Finger packen, aber er hielt abrupt inne, als hätte er einen elektrisch geladenen Zaun berührt.
»Bitte helfen Sie ihr, Doktor. Ich schwöre, alles in meinen Kräften Stehende zu tun, um Ihnen bei Ihrer Behandlung behilflich zu sein.«
Seine Hände waren immer noch in der Luft. Er merkte es mit Verdruß. Zehn Finger plumpsten auf den Tisch wie vom Schrot getroffene Enten.
»Sie widmen sich der Familie mit großer Hingabe«, sagte ich.
Er zuckte zurück und sah weg, als hätte ich irgendein geheimes Laster aufgedeckt.
»Solange sie kommt, werde ich sie behandeln, Mr. Dutchy. Was Sie tun können, ist, mir alles zu sagen, was ich wissen muß.«
»Ja, natürlich, haben Sie sonst noch Fragen?«
»McCloskey, was weiß sie über ihn?«
»Nichts!«
»Sie hat seinen Namen erwähnt.«
»Das ist alles, was er für sie ist, nur ein Name. Kinder schnappen Dinge auf und hören mit.«
»Ja, das ist richtig. Und sie hat viel mitgehört. Sie weiß, daß er ihre Mutter mit Salzsäure angegriffen hat, weil er sie nicht mochte. Was hat man ihr sonst noch von ihm erzählt?«
»Nichts, ehrlich. Wie gesagt, Kinder hören mit, aber er ist kein Gesprächsthema bei uns zu Hause.«
»Mr. Dutchy, mangels exakter Informationen erdenken Kinder sich ihre eigenen Versionen aus. Es wäre also für Melissa am besten, wenn man ihr verständlich machen würde, was ihrer Mutter zugestoßen ist.«
Seine Knöchel waren weiß, als er die Tasse umspannte. »Was schlagen Sie vor, Sir?«
»Daß sich jemand hinsetzt und mit Melissa redet und ihr erklärt, warum McCloskey Mrs. Dickinson angegriffen hat.«
Er entspannte sich zusehends. »Warum ihr erklären? Ja, ja, ich sehe, was Sie meinen, nur gibt es da ein Problem.«
»Was für ein Problem?«
»Niemand weiß warum, der Hundesohn hat es nie verraten. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, Doktor, ich muß wirklich los.«
5
Am Montag war Melissa großartig in Stimmung. Sie war kooperativ und höflich und versuchte mich nicht mehr auf die Probe zu stellen wie beim letzten Mal. Aber sie war reserviert und zurückhaltend und zog es vor zu malen. - Das Phänomen der typisch neuen Patientin, als sei alles Bisherige nur eine
Weitere Kostenlose Bücher