SÄURE
außer vor lauten Geräuschen und hellem Licht?«
»Vor der Dunkelheit, vor dem Alleinsein, und manchmal gibt es überhaupt keinen Anlaß.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie bekommt einen Anfall, um zu provozieren.«
»Wie sieht der Anfall aus?«
»Dem anderen sehr ähnlich: Sie atmet hastig und stoßweise, läuft schreiend herum. Manchmal liegt sie einfach auf dem Boden, strampelt und tritt mit den Füßen, oder sie klammert sich an den nächstbesten Erwachsenen und hängt sich an ihn wie eine - eine Klette.«
»Kommt es zu diesen Anfällen, nachdem man ihr etwas verweigert hat?«
»Nicht immer, bisweilen ja. Sie reagiert unfreundlich, wenn man ihr Grenzen setzt. Welches Kind tut das nicht?«
»Also hat sie Wutausbrüche. Aber diese Art Anfälle gehen doch darüber hinaus?« * »Ich spreche von echter Angst, Doktor, Panik. Sie scheint aus dem Nichts heraus zu kommen.«
»Sagt sie, wovor sie Angst hat?«
»Vor Monstern, bösen Dingern. Manchmal behauptet sie, Geräusche zu hören oder Sachen zu sehen und zu hören.«
»Sachen, die niemand sonst hört oder sieht?«
»Ja«, ein Zittern in seiner Stimme.
Ich fragte: »Macht Ihnen das mehr als die anderen Symptome Sorgen?«
»Man fragt sich schon…«, sagte er leise.
»Falls Sie sich Sorgen wegen einer Psychose oder irgendeiner Art von gedanklicher Verwirrung machen, kann ich Sie beruhigen. Es sei denn, daß da noch etwas ist, von dem Sie mir noch nicht erzählt haben: Gibt es ein selbstzerstörerisches Verhalten oder sonderbare Reden?«
»Nein, nein, nichts dergleichen«, sagte er, »ich nehme an, es ist alles Teil ihrer Phantasie.«
»Genauso ist es, sie hat eine blühende Phantasie, aber soweit ich es beurteilen kann, auch einen sehr guten Kontakt zur Realität. Kinder in ihrem Alter sehen und hören nun einmal oft Dinge, die Erwachsene nicht sehen und hören.«
Er schien zu bezweifeln, was ich sagte.
»Es ist alles Teil eines Spiels«, erklärte ich ihm, »spielen heißt Phantasien ausleben. Es ist das Theater der Kindheit. Kinder komponieren Dramen in ihren Köpfen, sie reden mit imaginären Spielgefährten. Es ist eine Art Selbsthypnose, die zu einer gesunden Entwicklung dazugehört.«
Er schien nicht ganz überzeugt, aber er hörte interessiert zu.
Ich fuhr fort: »Die Phantasie kann eine heilsame Wirkung haben, Mr. Dutchy. Sie kann Ängste sogar reduzieren, weil sie den Kindern das Gefühl gibt, ihr Leben in der Gewalt zu haben. Aber für einige Kinder - für die hochnervösen, introvertierten, die in einer Umgebung leben, in der sie unter großem Streß stehen - kann dieselbe Fähigkeit im Geist Bilder entwerfen, die zu Angstzuständen führen. Diese Bilder sind ganz einfach zu intensiv und zu lebendig. Und, um es noch einmal zu sagen, ein konstitutioneller Faktor mag bei ihr auch eine Rolle spielen. Sie sagten, ihr Vater sei ein hervorragender Restaurator von Kunstwerken gewesen. Hat er noch irgendeine andere Art von Kreativität an den Tag gelegt?«
»Unbedingt. Er war von Beruf Architekt und in jüngeren Jahren ein begabter Maler.«
»Warum hörte er damit auf?«
»Er kam zu der Überzeugung, daß er nicht gut genug sei, um so viel Zeit darauf zu verwenden. Er zerstörte seine Arbeiten, malte nie wieder und fing an zu sammeln. Er unternahm Weltreisen. Sein Architekturexamen hat er übrigens an der Sorbonne abgelegt - er liebte Europa. Er hat einige wunderbare Bauwerke errichtet, bevor er die Stütze erfand.«
»Die Stütze?«
»Ja«, sagte er, als erklärte er das ABC, »die Dickinson-Stütze. Es ist ein Verfahren, um Stahl zu festigen, das überall in der Bauindustrie angewendet wird.«
»Was ist mit Mrs. Dickinson?« fragte ich. »Sie war Schauspielerin. Hat sie irgendwelche anderen kreativen Betätigungsfelder?«
»Ich habe keine Ahnung, Doktor.«
»Seit wann leidet sie unter Agoraphobie, das heißt, daß sie es nicht wagt, das Haus zu verlassen?«
»Sie verläßt das Haus«, korrigierte er. »Oh?«
»Ja, Sir, sie geht im Garten spazieren.«
»Verläßt sie jemals das Grundstück?«
»Nein.«
»Wie groß ist das Grundstück?«
»Sechs dreiviertel Morgen, ungefähr.«
»Geht sie kreuz und quer spazieren oder von einem Ende zum anderen?«
Räuspern, Lippennagen. »Sie zieht es vor, sich ziemlich nahe dem Haus aufzuhalten. Sonst noch irgend etwas, Doktor?«
Meine ursprüngliche Frage war unbeantwortet geblieben; er hatte sich um eine direkte Antwort gedrückt. »Seit wann ist sie schon so - daß sie das Grundstück nicht
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