SÄURE
nettes, intelligentes kleines Mädchen - sie hat den Iowa-Test mit neunundneunzig Prozent bestanden. Wir sind so froh, daß sie sich gefangen hat…«
Ich dankte ihr, legte auf und freute mich. Sagte mir ›zum Teufel mit den Erwachsenem‹ und fuhr mit meiner Arbeit fort.
Der vierte Monat der Behandlung begann, und Melissa fühlte sich inzwischen in meiner Praxis wie zu Hause.
Lächelnd kam sie hereingehüpft und stürzte sich sofort auf den Zeichentisch. Sie kannte jede Ecke, bemerkte sofort, wenn ein Buch nicht an seinem üblichen Platz stand, um es umgehend wieder hinzustellen.
Melissa hatte einen ungewöhnlich scharfen Blick für Details, was mit der von Dutchy beschriebenen präzisen Auffassungsgabe übereinstimmte. Sie war ein Kind, dessen Sinne hellwach waren. Dir Leben würde niemals langweilig sein.
Als der fünfte Monat begann, erklärte sie, sie sei nun wieder zum Reden bereit. Sie teilte mir mit, sie wolle mit mir ein Team bilden - genauso wie ich es ihr am Anfang vorgeschlagen hatte.
»Wunderbar, was wollen wir denn bearbeiten?«
»Die Dunkelheit.«
Ich rollte die Ärmel hoch, bereit jedes Körnchen Wissen aufzubringen, das ich seit meiner Ausbildung gesammelt hatte. Zuerst erklärte ich ihr, wie man die körperlichen Warnsignale der Angst erkennt - was hatte sie für ein Gefühl, wenn die Angst hochkam? Dann zeigte ich ihr, sich gründlich zu entspannen, was sich bei ihr mit ihrer großen Phantasie zu einer richtigen Hypnose entwickelte. Sie lernte in einer einzigen Sitzung, wie man sich selbst hypnotisiert, bis sie sich sekundenschnell in Trance versetzen konnte, und mit welchen Fingerzeichen sie sich während der Hypnose ausdrücken konnte. Schließlich begann der Desensibilisierungsprozeß.
Ich ließ sie in einem Sessel Platz nehmen und bat sie, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, sie säße in einem dunklen Raum. Ich beobachtete, wie sich ihr Körper anspannte und ihr Zeigefinger hochschoß. Ich wehrte jedoch die Spannung ab, indem ich von tiefer Ruhe und einem großen Wohlgefühl sprach. Als sie sich wieder entspannt hatte, ließ ich sie in den dunklen Raum zurückkehren. Es dauerte eine Woche, bis sie diese Vorstellung ertragen konnte. Dann hatte sie die imaginäre Dunkelheit gemeistert, bereit, den wirklichen Feind in Angriff zu nehmen.
Ich zog die Vorhänge zu und drehte am Dimmer des Lichtschalters und ließ es im Zimmer langsam immer dunkler werden, so daß sie sich allmählich daran gewöhnte. Ich dehnte die Zeitspanne aus, in der sie im Halbdunkel da saß, und reagierte auf jedes Zeichen von Nervosität, indem ich ihr suggerierte, sich tiefer und tiefer zu entspannen.
Während der elften Sitzung dieser Behandlung konnte ich die lichtundurchlässigen Vorhänge zuziehen und uns beide in völlige Dunkelheit versetzen. Ich zählte laut die Sekunden und horchte dabei auf ihre Atemgeräusche, um beim leisesten Stocken oder Schnellerwerden zu handeln und sie auf keinen Fall einem längeren Angstzustand zu überlassen.
Ich belohnte jeden ihrer Erfolge mit großem Lob und kleinen Geschenken - Plastikspielzeug, das ich im Dutzend beim Supermarkt erstand. Über diese Geschenke war sie hellauf begeistert.
Gegen Ende des Monats konnte sie bereits zu meiner großen Verwunderung eine Dreiviertelstunde lang in völliger Dunkelheit dasitzen, ohne Angstzustände zu bekommen, und über die Schule plaudern. Bald war sie wie eine Fledermaus an die Dunkelheit gewöhnt. Ich sagte ihr, das wäre eine gute Gelegenheit, es mal mit dem Einschlafen zu versuchen. Sie lächelte und stimmte zu.
Ich war besonders darauf gespannt, denn dies war mein Spezialgebiet. Während meines Praktikums im Kinderkrankenhaus hatte ich mehrere Fälle von Kindern gehabt, die unter nächtlichen Angstzuständen litten, und war beeindruckt davon gewesen, welches Ausmaß an Störungen dies bei den Kindern und ihren Angehörigen hervorrief. Aber keiner der Psychologen oder Psychiater an dem Krankenhaus wußte, was man dagegen tun konnte. Offiziell kannte man in diesen Fällen nur die Behandlung mit Beruhigungsmitteln oder Sedativa, deren Wirkungen bei Kindern nicht vorhersehbar sind.
Ich ging in die Bibliothek des Krankenhauses, suchte nach Hinweisen und fand viel Theoretisches, aber nichts über eine Behandlung. Enttäuscht saß ich lange da, dachte nach und beschloß, etwas Unerhörtes zu versuchen: eine ›operative Konditionierung«, das bedeutete eine simple Verhaltenstherapie: Man belohne die Kinder, wenn sie
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