SÄURE
keine Angstzustände bekommen und warte ab, was geschieht.
Primitive Methode – beinahe plump. Theoretisch ergab sie keinen Sinn - wie die älteren, Pfeife rauchenden Kollegen sich beeilten, mir mitzuteilen. Wie konnte man ein unbewußtes Verhalten wie das Aufschrecken aus tiefem Schlaf über das Bewußtsein manipulieren? Was konnte eine Konditionierung des Willens gegen eine tiefgreifende Störung nützen?
Aber neuere Forschungsergebnisse hatten gezeigt, daß der Wille wohl doch mehr Macht über die körperlichen Funktionen besaß, als man sich das je vorgestellt hatte: Patienten lernten, ihre Hauttemperatur und den Blutdruck zu verändern, ja sogar heftige Schmerzen zu verdrängen. Bei einer psychiatrischen Besprechung bat ich um die Genehmigung, eine Dekonditionierung von nächtlichen Angstzuständen versuchen zu dürfen. Schließlich hatten wir nichts zu verlieren, argumentierte ich. Es gab viel Kopfschütteln und Worte der Entmutigung, aber ich bekam die gewünschte Erlaubnis.
Es funktionierte. Bei all meinen Patienten besserte sich der Zustand, und das blieb auch so. Die älteren Kollegen fingen an, meine Methode auch bei ihren Patienten anzuwenden und erreichten ähnliche Ergebnisse. Der Chefpsychologe sagte mir, ich solle es für eine wissenschaftliche Zeitschrift niederschreiben und ihn als Koautor nennen. Ich schickte den Artikel ein, überzeugte die skeptischen Redakteure mit Zahlenreihen und statistischen Tests, und man veröffentlichte meine Arbeit. Innerhalb eines Jahres bestätigten andere Therapeuten meine Ergebnisse. Ich bekam Briefe, in denen man mich um Zustimmung für den Abdruck in weiteren Zeitschriften bat, Anrufe aus der ganzen Welt und Aufforderungen, Vorträge zu halten.
Ich hatte gerade einen solchen Vortrag gehalten, als Eileen Wagner mich ansprach. Es war der Vortrag, der mich zu Melissa geführt hatte. Und jetzt war Melissa bereit, sich von dem Experten behandeln zu lassen. Aber es gab da ein Problem: Die Technik - meine Technik - war auf ein Mitwirken der Familie angewiesen. Jemand mußte genau den Schlaf der Patientin überwachen.
An einem Freitagnachmittag, bevor er mir entwischen konnte, knöpfte ich mir Dutchy vor. Er sah mich resigniert an und fragte: »Was ist, Doktor?«
Ich gab ihm einen Packen Millimeterpapier und zwei große Bleistifte, nahm das Gehabe eines ordentlichen Professors an und erteilte die nötigen Anweisungen: Vor dem Zubettgehen sollte Melissa Entspannungsübungen machen. Er durfte sie nicht dazu drängen oder daran erinnern, sie selbst war dafür verantwortlich. Seine Aufgabe bestand darin, das Vorkommen und die Häufigkeit von nächtlichen Angstzuständen festzuhalten. Nächte ohne Angstzustände sollten am folgenden Morgen mit einer jener Spielzeugkleinigkeiten belohnt werden, die sie so gern zu haben schien. Nächte mit Angstzuständen sollten ignoriert werden.
»Aber Doktor«, sagte er, »sie hat keine.«
»Hat keine was?«
»Angstzustände. Sie schläft seit Wochen ganz ruhig. Das Bettnässen hat auch aufgehört.«
Ich sah zu Melissa hinüber. Sie war hinter ihn getreten, die Hälfte ihres Gesichts lugte hervor - so daß ich das Lächeln sehen konnte. Sie freute sich über ihr Geheimnis, als wäre es Konfekt. Das war nur natürlich, denn für sie waren Geheimnisse an der Tagesordnung.
»Die Veränderung ist wirklich recht bemerkenswert gewesen«, sagte Dutchy, »deshalb hielt ich es nicht für nötig -«
Ich sagte: »Ich bin richtig stolz auf dich, Melissa.«
»Ich bin stolz auf Sie, Dr. Delaware«, sagte sie und fing an zu kichern, »wir sind ein ausgezeichnetes Team.«
Ihr Zustand besserte sich schneller, als die Wissenschaft es hätte erklären können. Sie übersprang einfach verschiedene Stufen meines klinischen Spielplans. Sie heilte sich selbst.
»Zauberei«, hatte einer meiner weiseren Lehrer einmal gesagt. »Manchmal bessert sich ihr Zustand und Sie wissen nicht, wieso. Bevor Sie auch nur mit dem angefangen haben, was Sie für so verdammt raffiniert und hoch wissenschaftlich halten. Kämpfen Sie nicht dagegen an. Rechnen Sie es einfach zur Zauberei. Diese Erklärung ist so gut wie jede andere.« Sie brachte es fertig, daß ich mir wie ein Zauberer vorkam.
Wir gelangten nie bis zu den Themen, deren Untersuchung ich für wesentlich gehalten hatte: Tod, Verletzung und Einsamkeit - ein Mikoksi mit Säure. Trotz der Häufigkeit unserer Sitzungen blieb ihre Karte leer - ich brauchte nur sehr wenig aufzuschreiben. Ich fragte mich
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