SÄURE
Art Versuch gewesen.
Sie begann ein Bild mit derselben »Heile Welt«-Malerei, wie sie es mir nach unserer ersten Sitzung geschenkt hatte. Dann ging sie allerdings zu dunkleren Farbtönen über, malte einen Himmel ohne Sonne, graue Stricheleien und Böses ahnende Andeutungen. Sie skizzierte traurig aussehende Tiere, graubraune Gärten, verloren wirkende Kinder in starren Posen und sprang dabei von einem Thema zum nächsten. Aber als die erste Hälfte der Sitzung vorüber war, fand sie ein Thema, bei dem sie blieb: Sie malte seitenweise unförmige Häuser ohne Türen und Fenster zwischen skeletthaften Baumgruppen unter einem düsteren Himmel.
Schließlich begann sie den Häusern graue Schatten hinzuzufügen, die sie zu einer menschlichen Gestalt ganz in Schwarz verwandelte: Zu einem Mann mit einem Hut, einem langen Mantel und einen klumpigen Sack.
Sie malte mit so wütendem Eifer, daß sie mit ihren Stiften das Papier einriß. Die Stifte und Kreiden wurden zu Stummeln, und jedes fertige Erzeugnis wurde genüßlich zerfetzt.
Melissa arbeitete volle drei Wochen lang auf diese Art und Weise. Nach jeder Stunde stapfte sie wortlos wie ein kleiner Soldat von dannen. Mit Beginn der vierten Woche fing sie an, die letzten zehn oder fünfzehn Minuten lang still vor sich hin zu spielen: Memory, Domino, Steckspiele. Sie strengte sich an, hatte aber offenbar keinen besonderen Spaß dabei.
Manchmal brachte Dutchy sie zu mir, aber immer öfter kam sie mit Hernandez, der mich nach wie vor mit Argwohn betrachtete. Dann allerdings kamen andere Aufpasser mit: eine Reihe von dunkelhaarigen, mageren jungen Männern, die nach Arbeitsschweiß rochen und einander so ähnlich sahen, daß ich sie verwechselte. Von Melissa erfuhr ich, daß es die Söhne von Hernandez waren. Oder Melissa wurde von einer großen, dicken Frau mit straff geflochtenem Zopf und Pausbacken begleitet. Sie hatte einen französischen Akzent und war Madeleine, Köchin und Kindermädchen zugleich. Sie schwitzte immer und wirkte stets erschöpft.
Sie waren alle überaus pünktlich, wenn sie Melissa zu mir brachten oder sie wieder abholten, was wohl auf Dutchys Anleitung zurückging. Wenn Dutchy kam, betrat er nicht einmal mehr das Wartezimmer.
Ich hatte ihn gebeten, Daten für mich zu sammeln, aber er tat es nicht, was mir mit der Zeit immer weniger ausmachte, denn Melissas Zustand schien sich zu bessern, also auch ohne seine Mitwirkung und die der anderen.
Zehn Wochen nach Beginn der Therapie war sie ein anderes Kind. Der Druck war von ihr gewichen, sie verhielt sich auffällig ruhig und lachte ab und zu. Sie entspannte sich beim Spielen, amüsierte sich über meine Schulwitze und benahm sich endlich wie ein Kind. Und obwohl sie sich weiterhin weigerte, über ihre Ängste zu sprechen, waren auch ihre Zeichnungen ruhiger geworden: die Männer mit den Säcken verschwanden, und Fenster und Türen belebten wieder die Mauern. Sie bewahrte die Zeichnungen auf und gab sie mir voller Stolz.
Ein Fortschritt? Oder nur eine Siebenjährige, die ein glückliches Gesicht aufsetzt, um ihrem Therapeuten eine Freude zu machen? Wenn ich gewußt hätte, wie sie außerhalb meiner Praxis war, hätte mir das bei der Beurteilung geholfen. Aber alle wichen mir aus, als wäre ich ein Virus.
Nicht einmal Eileen Wagner war zu erreichen. Ich rief mehrmals in ihrer Praxis an, erreichte aber immer nur ihren Auftragsdienst. Beim Personalbüro des Kinderkrankenhauses Western Pediatrics war nicht zu erfahren, ob sie noch einen anderen Job hatte. Es war seltsam, wenn man ihr Engagement für diese Patientin bedachte, aber alles an diesem Fall war sonderbar, und ich hatte mich daran gewöhnt.
Ich erinnerte mich daran, was Eileen mir über Melissas plötzlich ausgebrochene Schulphobie erzählt hatte und rief in ihrer Schule an. Melissas Lehrerin, eine Mrs. Vera Adler, bestätigte, daß Melissa am Anfang des Halbjahrs sehr oft die Schule versäumt hatte, seither aber regelmäßig am Unterricht teilgenommen habe und ihre »häuslichen Lebensumstände« anscheinend auch besser geworden waren.
»Hatte sie soziale Probleme, Mrs. Adler?«
»Das würde ich nicht sagen, nein, sie hat nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. Aber sie war kein besonders extrovertiertes Kind - ein bißchen schüchtern. Sie lebte in ihrer eigenen Welt. Jetzt ist sie kontaktfreudiger. War sie früher oft krank?«
»Nur das Übliche«, sagte ich. »Ich wollte nur sichergehen.«
»Nein, sie macht sich prächtig, ein sehr
Weitere Kostenlose Bücher