SÄURE
zunehmend, ob ich nicht nur die Rolle eines hochbezahlten Babysitters spielte, und sagte mir daraufhin, daß es Schlimmeres gab. Und in Anbetracht des Ansturms schwieriger Fälle, die mit jedem Monat mehr zu werden schienen, und mit dem meine Praxis florierte, war ich dankbar für die Gelegenheit, dreimal in der Woche für jeweils fünfundvierzig Minuten passiv und ein Zauberer sein zu dürfen.
Nach acht Monaten teilte Melissa mir mit, daß all ihre Ängste verschwunden seien. Ich riskierte es, ihren Zorn hervorzurufen, indem ich vorschlug, die Zahl unserer Sitzungen auf zweimal pro Woche zu verringern. Sie war so rasch dazu bereit, daß ich wußte: Sie hatte schon selbst daran gedacht. Dennoch rechnete ich mit ein paar Rückschlägen, sobald ihr der Verlust dieser intensiven Zuwendung bewußt wurde. Aber dem war nicht so, und am Ende des Jahres kam sie nur noch einmal die Woche. Die Art der Sitzungen veränderte sich überdies. Sie wurde zwangloser, viele Spiele, keine dramatischen Geschehnisse.
Die Therapie ging ihrem Ende entgegen. Was für ein Triumph! Ich versuchte noch einmal, Eileen Wagner zu erreichen, um ihr die freudige Nachricht mitzuteilen, - »Kein Anschluß unter dieser Nummer«, sagte jedoch eine Telefonistinnenstimme. Ich rief das Krankenhaus an und erfuhr, daß sie ihre Praxis geschlossen hatte, im Krankenhaus ausgeschieden war und keine neue Adresse hinterlassen hatte.
Sonderbar, aber das ging mich nichts an. Und daß ich einen Bericht weniger zu schreiben hatte, beklagte ich nicht. Dieser komplizierte Fall hatte sich als überraschend einfach herausgestellt. Patientin und Arzt hatten gemeinsam die Dämonen besiegt. Was konnte es Schöneres geben? Die Schecks vom Fiduciary Trust Fund kamen weiter, es waren dreistellige Summen.
In der Woche, in der sie ihren neunten Geburtstag feierte, erschien sie mit einem Geschenk. Ich hatte nichts für sie, da ich schon vor langer Zeit beschlossen hatte, meinen Patienten nichts zu kaufen. Aber das schien sie nicht zu bekümmern, und sie strahlte, als sie es mir übergeben ließ.
Es war zu groß, als daß sie es selbst hätte tragen können. Sabino brachte es mit in die Praxis. Einen großen Korb voller Obst, Käse, Weinproben, Dosen mit Kaviar, geräucherten Austern und Forelle, Kastanienpaste, Gläser mit Eingemachtem und Kompott, alles in Kreppapier, aus einem Delikatessenladen in Pasadena. Der Korb enthielt eine Karte:
Für Doktor Delaware, mit Liebe, Melissa D.
Auf der Rückseite war eine Zeichnung von einem Haus, die beste, die sie je gemacht hatte - sorgfältig ausgemalt, mit vielen Fenstern und Türen.
»Das ist hübsch, Melissa. Vielen herzlichen Dank.«
»Gern geschehen.« Sie lächelte, aber in ihren Augen waren Tränen.
»Was ist denn, Liebes?«
»Ich möchte…« Sie drehte sich um und sah eines der Bücherregale an, die Arme um den Oberkörper gelegt. »Was ist, Melissa?«
»Ich möchte… Es ist vielleicht Zeit… zu… nicht mehr…« Ihre Stimme erstarb. Sie zuckte die Achseln, spielte mit den Händen.
»Du meinst, du willst jetzt mit der Behandlung aufhören?« Mehrfaches heftiges Nicken.
»Das ist doch ganz in Ordnung, Melissa. Du hast dich ganz toll gemacht. Ich bin wirklich stolz auf dich. Wenn du es also jetzt allein versuchen willst, verstehe ich das, und ich finde das großartig. Und du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen, ich werde immer hier sein, wenn du mich brauchst.«
Sie wirbelte herum und sah mich an. »Ich bin neun Jahre alt, Dr. Delaware. Ich glaube, ich bin so weit, selbst klarzukommen.«
»Das glaube ich auch. Und mach dir keine Sorgen, daß du meine Gefühle verletzen könntest.« Sie fing an zu weinen.
Ich ging zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie legte den Kopf an meine Brust und schluchzte.
»Ich weiß, es ist schwer«, sagte ich. »Du machst dir Sorgen, daß du meine Gefühle verletzen könntest. Wahrscheinlich hast du dir die ganze Zeit darüber Sorgen gemacht.«
Sie nickte unter Tränen.
»Das ist sehr lieb von dir, Melissa. Ich bin dir dankbar, daß du dich um meine Gefühle sorgst. Aber mach dir keine Gedanken - mir geht’s gut. Klar, du wirst mir fehlen, aber ich werde immer an dich denken. Und daß du nicht mehr regelmäßig herkommst, heißt ja nicht, daß wir keinen Kontakt mehr haben werden. Wir können ja telefonieren oder uns Briefe schreiben. Du kannst sogar kommen und mich besuchen, wenn du keine Sorgen hast. Nur um ›ha‹ zu sagen.«
»Tun andere Patienten das?«
»Klar.«
»Wie
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