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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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gegenüber?«
    Sie warf mir einen irritierten Blick zu und strich sich das Haar aus der Stirn. »Was ich ihm gegenüber empfinde? Er stört mich nicht.«
    »Finden Sie ihn unaufrichtig?«
    »Ich glaube, er ist - seicht, eben typisch für einen aus Hollywood.« Womit sie die Vorurteile, die sie gerade eben selbst kritisiert hatte, wiederholte. Sie wurde sich dessen bewußt und entschuldigte sich: »Ich weiß, das klingt sehr nach San Labrador, aber Sie müßten ihn kennenlernen, um es zu verstehen. Er ist im Winter braungebrannt, lebt fürs Tennisspielen und Skifahren und lächelt immer, auch wenn es nichts zu lächeln gibt. Im Gegensatz zu ihm war Vater ein Mann mit Tiefgang. Mutter verdient was Besseres. Wenn ich gewußt hätte, daß es so weit gehen würde, hätte ich nie damit angefangen.«
    »Hat er selbst Kinder?«
    »Nein. Er war vorher nie verheiratet.«
    Sie betonte dieses ›vorher‹, so daß ich sie fragte: »Machen Sie sich Sorgen, daß er Ihre Mutter ihres Geldes wegen geheiratet haben könnte?«
    »Der Gedanke ist mir schon gekommen. Don ist nicht gerade arm, aber mit Mutter kann er sich nicht vergleichen.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
    Ich fragte: »Rührt Ihr Konflikt wegen Harvard zum Teil auch daher, daß Sie das Gefühl haben, Sie müßten Ihre Mutter vor ihm beschützen?«
    »Nein, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er fähig ist, für sie zu sorgen. Warum sie ihn geheiratet hat, ist mir immer noch ein Rätsel.«
    »Wie sieht es denn mit dem Personal aus, kümmert es sich um Ihre Mutter?«
    »Die Leute sind nett«, sagte sie, »aber sie braucht mehr.«
    »Was ist mit Jacob Dutchy?«
    »Jacob«, sagte sie mit einem Beben in der Stimme, »Jacob ist tot.«
    »Das tut mir leid.«
    »Er ist voriges Jahr gestorben«, sagte sie. »Er hat irgendeine Art Krebs bekommen, und dann ging es sehr schnell. Er verließ uns sofort, als man ihm die Diagnose gestellt hatte. Er ist in ein Pflegeheim gegangen, aber wohin hat er uns nicht verraten. Er wollte nicht, daß ihn jemand krank sah. Nachdem er… Später rief das Heim meine Mutter an, und sie sagten ihr, er sei… Es fand nicht mal eine Beerdigung statt, nur eine Einäscherung. Es tat mir richtig weh - daß ich ihm nicht hatte helfen können. Aber Mutter sagte, wir hätten ihm geholfen, indem wir ihn hätten tun lassen, was er für richtig hielt.« Weitere Tränen, weitere Papiertaschentücher.
    Ich sagte: »Ich erinnere mich, daß er ein willensstarker Gentleman war.«
    Sie ließ den Kopf sinken. »Jedenfalls ging es schnell.«
    Ich wartete darauf, daß sie noch etwas sagte. Als sie es nicht tat, erwiderte ich: »Es ist Ihnen soviel zugestoßen, es muß Ihre Gefühle sicher erschüttert haben. Deshalb verstehe ich, wieso es Ihnen schwerfällt zu entscheiden, was Sie tun sollen.«
    »Oh, Dr. Delaware!« sagte sie, stand auf, kam auf mich zu und warf mir die Arme um den Hals. Sie hatte sich für den Termin parfümiert, ein schwerer, blumiger Duft, viel zu alt für sie. Ich dachte daran, wie sie sich ihren eigenen Weg durchs Leben suchen würde, und an all die Versuche und Irrtümer. Eine große Zuneigung zu ihr erfaßte mich. Ich spürte, wie ihre Hände meinen Rücken umklammerten. Ihre Tränen durchnäßten mein Jackett.
    Ich sprach ihr tröstende Worte aus, die mir so leer und unwirklich wie das golden schimmernde Licht vorkamen. Als sie zu weinen aufhörte, löste ich mich vorsichtig von ihr. Sie zog sich aus Scham schnell zurück, setzte sich wieder hin und rang die Hände.
    Ich sagte: »Es ist ja gut, Melissa. Sie brauchen nicht immer stark zu sein.« Der typische Seelenklempnerreflex, nur immerzu ja sagen. Aber war es das Richtige in diesem Fall?
    Sie fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich kann’s gar nicht glauben, daß ich so die Fassung verliere. Ich hatte mir vorgenommen, es ganz… nüchtern-realistisch…, eine Konsultation und keine…«
    »Keine Therapie?«
    »Ja. Ich bin wegen Mutter hergekommen. Ich dachte wirklich, ich selbst wäre in Ordnung, brauchte keine Therapie. Ich wollte Ihnen zeigen, daß ich okay bin.«
    »Sie sind wirklich okay, Melissa. Es gibt unglaublich viel Aufregung in Ihrem Leben: all das, was Ihre Mutter durchgemacht hat, daß Sie Jacob verloren haben.«
    »Ja«, sagte sie gedankenverloren. »Er war ein lieber Mensch.«
    Ich wartete einen Augenblick, bevor ich fortfuhr: »Und jetzt die Sache mit Harvard. Das ist eine wichtige Entscheidung. Es wäre dumm, sie nicht wichtig zu nehmen.«
    Sie

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