SÄURE
seufzte.
Ich sagte: »Lassen Sie mich Ihnen folgende Frage stellen: Wenn alles ruhig wäre, würden Sie dann gehen wollen?«
»Ja, ich weiß, daß es eine großartige Chance ist für meine Zukunft. Aber ich muß - ich muß das Gefühl haben, daß es das Richtige ist.«
»Was könnte Ihnen helfen, dieses Gefühl zu haben, daß es das Richtige ist?«
Sie schüttelte den Kopf und warf die Hände hoch. »Ich weiß es nicht. Ich wollte, ich wüßte es.« Sie sah mich ratlos an.
Ich lächelte und deutete auf die Couch. Sie setzte sich wieder hin. Ich fragte: »Was könnte Sie wirklich überzeugen, daß Ihre Mutter zurecht kommen wird?«
»Daß sie zurecht kommt! Wie alle anderen. Das klingt schrecklich, als ob ich mich ihrer schäme. Das tue ich nicht, ich mache mir nur Sorgen.«
»Sie möchten sicher sein, daß sie allein klarkommt.«
»Das ist es ja, sie tut es oben in ihrem Zimmer. Das ist ihre Welt. Nur die Welt draußen, die… Jetzt, da sie hinausgeht und sich zu verändern versucht, ist es unheimlich, und es macht mir Angst.«
»Natürlich tut es das.«
Schweigen.
Ich sagte: »Ich nehme an, ich brauche Ihnen nicht erst zu erklären, daß Sie nicht ewig die Verantwortung für Ihre Mutter übernehmen können. Sie können Ihrer Mutter keine Mutter sein, das würde Ihr eigenes Leben beeinträchtigen und Ihrer Mutter nicht gut tun.«
»Ja, ich weiß. Das hat mir… N - natürlich stimmt das.«
»Hat Ihnen jemand anders dasselbe gesagt?«
Sie biß sich auf die Lippe. »Nur Noel, Noel Drucker. Er ist ein Freund - kein enger Freund, nur ein Junge, der mein Freund ist. Ich meine, er empfindet mehr für mich als nur Freundschaft, aber ich bin mir meiner Gefühle für ihn nicht sicher. Ich respektiere ihn, er ist ein außergewöhnlich guter Kerl.«
»Wie alt ist Noel?«
»Ein Jahr älter als ich. Er wurde letztes Jahr in Harvard angenommen, hat sich aber beurlauben lassen, um zu jobben und Geld zu sparen. Seine Familie hat kein Geld - er und seine Mutter sind allein. Er hat sein Leben lang gearbeitet und ist sehr reif für sein Alter.«
»Haben Sie je mit ihm über Ihre Gefühle geredet?«
»Nein, er ist sehr sensibel. Ich möchte ihm nicht weh tun. Und ich weiß, daß er es gut meint, er denkt an mich.«
»Junge«, sagte ich und stieß Luft aus, »Sie kümmern sich um eine Menge Leute.«
»Kann sein.« Sie lächelte.
»Wer kümmert sich um Sie, Melissa?«
»Ich komme schon allein klar.« Sie sagte es mit einem Trotz in der Stimme, der mich neun Jahre zurückversetzte.
»Ich weiß, daß Sie das tun, Melissa. Aber sogar Menschen wie Sie brauchen manchmal jemanden, der sich um sie kümmert.«
»Noel versucht sich um mich zu kümmern. Aber ich lasse ihn nicht. Und er versteht einfach nicht, was mit Mutter ist. Niemand tut das.«
»Kommen Noel und Ihre Mutter miteinander aus?«
»Sie haben wenig miteinander zu tun, aber soweit gibt es keine Probleme. Sie findet, er sei ein netter Junge. Er mag sie auch ganz gern. Aber er sagt, ich schade ihr mehr, als ich ihr nütze, indem ich sie so bemuttere. Ihr Zustand würde sich bessern, wenn sie allein entscheiden würde.« Melissa stand auf und ging wieder im Zimmer umher. Sie fuhr mit der Hand über verschiedene Gegenstände, berührte dies, prüfte jenes und tat so, als interessierten sie plötzlich die Bilder an den Wänden.
Ich fragte: »Wie kann ich Ihnen am besten helfen, Melissa?«
Sie wirbelte auf dem Absatz herum und sah mich an. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht mit Mutter reden und mir dann sagen, was Sie für richtig halten.«
»Sie möchten, daß ich sie beurteile? Ihnen meine Meinung als Psychologe mitteile, ob sie wirklich damit fertig werden wird, wenn Sie nach Harvard gehen?«
Sie biß sich ein paarmal auf die Lippe, zupfte an einem ihrer Ohrringe und warf ihre Haartolle zurück. »Ich vertraue auf Ihr Urteil, Dr. Delaware. Wie Sie mir geholfen haben, mich zu verändern, das war wie Zauberei. Wenn Sie mir sagen, daß ich sie verlassen kann, dann werde ich es tun. Dann werde ich es einfach tun.«
Vor Jahren habe ich in ihr die Zauberin gesehen. Aber wenn ich ihr das jetzt sagte, würde sie das erschrecken. Ich erinnerte sie: »Wir waren ein gutes Team, Melissa. Sie haben damals Stärke und Mut bewiesen, genauso wie Sie es jetzt auch tun.«
»Danke. Also würden Sie…?«
»Ich wäre gern bereit, mit Ihrer Mutter zu sprechen, wenn sie einverstanden ist. Und wenn die Gabneys nichts dagegen haben.«
Sie runzelte die Stirn. »Warum die
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