SÄURE
sich herum, ein Teil ihres verunstalteten Gesichtes wurde sichtbar. »Ich fühlte mich in einer Falle gefangen, hilflos und unfähig. So habe ich ihr gegenüber immer wieder versagt.«
Ich erwiderte nichts.
Sie fuhr fort: »Wissen Sie, daß ich in dreizehn Jahren keinen einzigen Elternabend in ihrer Schule besucht habe? Ich habe niemals bei ihren Theateraufführungen applaudiert, an Ausflügen teilgenommen oder die Mütter der wenigen Kinder kennengelernt, mit denen sie gespielt hat. Ich war keine Mutter, Dr. Delaware, nicht im wahren Sinn des Wortes. Sie muß es mir vorwerfen, mich vielleicht sogar deswegen hassen.«
»Hat sie Ihnen zu dieser Vermutung irgendeinen Anlaß gegeben?«
»Nein, natürlich nicht. Melissa ist ein liebes Mädchen - viel zu respektvoll, um zu sagen, was sie denkt; obwohl ich versucht habe, es aus ihr herauszubekommen.« Sie beugte sich wieder vor. »Dr. Delaware, sie ist so tapfer. Sie meint, sie muß sich ständig wie eine Erwachsene, wie eine vollkommene kleine Dame aufführen. Ich habe ihr das angetan - mit meiner Schwäche.« Sie berührte ihre vernarbte Gesichtshälfte. »Ich habe vorzeitig eine Erwachsene aus ihr gemacht und sie ihrer Kindheit beraubt. Also weiß ich, daß sie wütend auf mich sein muß. Es sitzt in ihr drin und kann nicht heraus.«
Ich sagte: »Ich will nichts beschönigen und Ihnen erzählen, sie wären eine ideale Mutter für sie gewesen, oder behaupten, daß Ihre Ängste Melissa nicht beeinflußt hätten. Das haben sie getan. Aber die ganze Zeit, soweit ich das in ihrer Therapie gesehen habe, hat sie in Ihnen die sorgende und pflegende Mutter gesehen, deren Liebe bedingungslos war. So sieht sie Sie immer noch.«
Sie senkte den Kopf, hielt ihn mit beiden Händen fest, als ob ihr mein Lob weh täte.
Ich sagte: »Wenn sie Ihre Bettücher naß machte, haben Sie sie im Arm gehalten und sind nicht wütend auf sie geworden. Das bedeutet einem Kind viel mehr als Elternabende.«
Sie sah auf und starrte mich an, die Schlaffheit ihres Gesichts deutlicher als zuvor sichtbar. Sie drehte lächelnd den Kopf herum: »Mir wird klar, warum Sie so einen guten und starken Einfluß auf Melissa ausüben können«, sagte sie. »Sie bringen Ihre Ansicht mit einer Überzeugung vor, der man kaum etwas entgegensetzen kann.«
»Müssen Sie denn etwas entgegensetzen?«
Sie biß sich auf die Lippe. Eine Hand flog hoch und berührte wieder ihre beschädigte Gesichtshälfte. »Nein, natürlich nicht. Im Rahmen meiner Therapie habe ich mich nur gerade mit Ehrlichkeit beschäftigt: Ich muß mich so sehen, wie ich wirklich bin. Das ist ein Teil meiner eigenen Therapie. Aber Sie haben recht, ich bin nicht diejenige, um die es Ihnen geht. Es geht hier um Melissa. Was kann ich also tun, um ihr zu helfen?«
»Ich bin sicher, Sie wissen, wie ambivalent für sie der Gedanke ist, wegzugehen, ins College, Mrs. Ramp. Jetzt im Augenblick sieht sie es unter dem Aspekt der Wirkung, die es auf Sie haben könnte. Sie hat Angst, daß sie den Fortschritt, den Sie in Ihrer Therapie gemacht haben, zunichte machen könnte. Also ist es wichtig für sie, von Ihnen - ausdrücklich - zu hören, daß Sie damit einverstanden sind. Daß Sie auch dann auf dem Weg der Besserung fortfahren werden, wenn sie nicht mehr da ist. Daß Sie es wirklich möchten!«
»Dr.Delaware«, sagte sie und sah mich geradeheraus an. »Natürlich möchte ich es, und ich habe es ihr gesagt. Ich habe es ihr gesagt, seit ich wußte, daß man sie angenommen hat. Ich bin begeistert, es ist eine wunderbare Chance. Sie muß gehen!«
Ihre Nachdrücklichkeit überraschte mich.
»Was ich meine, ist«, sagte sie, »daß Melissa sich jetzt in einer entscheidenden Phase befindet, indem sie sich jetzt von zu Hause löst, ein neues Leben anfängt. Nicht, daß sie mir nicht fehlen wird - natürlich wird sie das. Aber ich bin endlich an den Punkt gelangt, wo ich sie so sehen kann, wie ich es vorher schon immer hätte tun müssen: nämlich als Kind. Ich habe Fortschritte gemacht, Dr. Delaware. Ich bin bereit, ein paar Riesenschritte zu unternehmen. Das Leben von einer anderen Warte aus zu betrachten. Aber Melissa will das nicht einsehen. Ich weiß, sie sagt, daß sie’s täte, aber sie hat ihr Verhalten nicht geändert.«
»Inwiefern möchten Sie, daß sie sich ändert?«
»Sie bemuttert mich, wie eine Glucke. Ursula - Dr. Cunningham-Gabney - hat mit ihr darüber zu reden versucht, aber Melissa geht nicht darauf ein. Die beiden scheinen einander
Weitere Kostenlose Bücher